»Aber diese unerklärliche Rivalität«, meinte Jacob. »Ich hatte den Eindruck, die Männer von der ST. LOUIS würden nichts auf der Welt so sehr hassen wie die NEW ORLEANS und deren Besatzung.«
»So ist es ja auch.«
»Und warum?«
»Weil sich die Kapitäne der beiden Schiffe hassen und bekämpfen. Das ist ihren Leuten in Fleisch und Blut übergegangen.«
Jacob blieb stehen und betrachtete die beiden großen Passagierdampfer, die gar nicht weit voneinander entfernt am Pier lagen. »Von hier aus bemerkt man keinen Unterschied zwischen der NEW ORLEANS und der ST. LOUIS. Man könnte glatt das eine Schiff für das andere halten und in der Dunkelheit an Bord des falschen Dampfers gehen. Mir erscheint es unglaublich, daß solcher Haß zwischen ihren Besatzungen besteht.«
»Gerade weil sich die Schiffe so ähnlich sind und auch ihre Kapitäne, besteht diese Feindschaft«, erklärte Devlin. »Die Kapitäne sind nämlich Brüder.«
»Brüder?« wiederholte Jacob ungläubig.
»In der Tat. Sie scheinen die Geschichte nicht zu kennen, die sonst jedem hier am Old Man River geläufig ist. Die Geschichte der New Orleans & St. Louis Dampfschiffahrtslinie.«
Die Deutschen gaben zu, daß sie die Geschichte nicht kannten.
»Dann will ich sie Ihnen gern erzählen«, sagte Devlin. »Es ist eine von jenen schicksalhaften, manchmal kaum glaublichen Geschichten, wie sie hier am großen Strom zu Tausenden erzählt werden. Doch in diesem Fall ist sie nachweislich wahr. Jedesmal, wenn die NEW ORLEANS und die ST. LOUIS nebeneinander im Hafen liegen oder sich auf dem Fluß begegnen, kann man das von neuem feststellen. Homer F. Wilcox, der Kapitän der NEW ORLEANS, und Henry F. Wilcox, der Kapitän der ST. LOUIS, sind die Söhne des alten Harding F. Wilcox, der die New Orleans & St. Louis Dampfschiffahrtslinie ins Leben gerufen und aufgebaut hat. Vor dem Krieg war es die größte Schiffahrtsgesellschaft zwischen Illinois und Louisiana. Zum fünfundzwanzigjährigen Jubiläum der Gesellschaft gab Harding F. Wilcox die beiden Prachtkähne nach seinen eigenen Entwürfen in Auftrag. Sie sollten als größte und schönste Schiffe auf dem Fluß Sinnbild der aufstrebenden Dampfschiffahrt sein. Aber dann brach der Krieg aus, und alles ging drunter und drüber. Nichts war mehr wie zuvor, auch nicht am Old Man River. Wilcox, durch die wirtschaftlichen Umwälzungen des Krieges bereits angeschlagen, sympathisierte mit der Union und schmuggelte auf seinen Schiffen entflohene Sklaven den Fluß hinauf. Als das aufflog, wurde er von der Regierung Louisianas enteignet, war seine Gesellschaft und sein ganzes Vermögen los. Wenige Tage später starb er an gebrochenem Herzen, ohne seine Söhne während dieser leidvollen Zeit zu Gesicht bekommen zu haben. Homer war nämlich zu der Zeit im Norden, um auf der Werft in Boston die Fertigstellung der beiden neuen Prunkschiffe zu überwachen. Henry dagegen war ein Lebemann und trieb sich irgendwo in Europa herum, um die Salons zwischen Paris und London unsicher zu machen. Als sie sich am Grab ihres Vaters wiedertrafen, gab jeder dem anderen die Schuld an seinem Tod. Homer beschuldigte Henry, daß er seinem Vater hätte helfen können, wäre er nicht in unerreichbarer Ferne seinen privaten Vergnügungen nachgegangen. Und Henry warf Homer vor, dem Vater nicht geholfen zu haben, obwohl er nicht so weit weg gewesen war wie Henry. An diesem Tag sollen die Brüder zum letztenmal miteinander gesprochen haben. Beide traten das Erbe ihres Vaters an, das aufgrund der Vermögensbeschlagnahme durch die Regierung Louisianas nur noch aus den beiden neuen Schiffen bestand, die zum Glück bereits bezahlt waren. Jeder übernahm ein Schiff und schwor sich, eine neue Dampfschiffahrtsgesellschaft zum Andenken des Vaters aufzubauen. Aber es lief darauf hinaus, daß sie sich seit diesem Tag ein erbittertes Duell um Frachtaufträge und Passagiere liefern. Jeder setzt alles daran, den anderen auszustechen.«
»Eine fast unglaubliche Geschichte«, befand Martin.
»Nicht wahr?« meinte Devlin und setzte den Weg zur QUEEN OF NEW ORLEANS fort. »Wie ich schon sagte, eine typische Mississippi-Geschichte. Das Land am Fluß steckt voller seltsamer Schicksale und Legenden.«
Sie betraten das Schiff über eine breite Laufplanke. Trotz der fortgeschrittenen Stunde herrschte auf den Decks noch reger Verkehr. Die Zwischendeckpassagiere saßen auf dem Hauptdeck, sangen traurige und fröhliche Lieder, ließen Whiskeyflaschen kreisen und hatten mehrere Pokerrunden gebildet. An einer beteiligte sich der Spitzgesichtige, während sein bärtiger Kumpan wie zufällig hinter den anderen Spielern herumstrich. Jacob machte Devlin und Illinois auf die beiden Betrüger aufmerksam.
»Ich habe ein paar Erkundigungen über die beiden eingeholt«, sagte Devlin. »Sie sind in der Stadt inzwischen so bekannt, besser gesagt berüchtigt, daß sie wohl oder übel einen anderen Ort aufsuchen müssen, um den Leuten das Geld abzunehmen. Das augenrollende Rattengesicht nennt sich Brady Tomlinson, und sein leicht dümmlich wirkender Partner behauptet, Hutch Potter zu heißen. Darauf würde ich aber nicht wetten. Solche Leute haben meistens noch mehr Namen als Asse in den Ärmeln, und das will schon etwas heißen.«
»Betrügen sie auch jetzt wieder?« fragte Martin.
»Aber sicher doch. Potter steht nicht zufällig hinter Tomlinsons Mitspielern. Er sieht in ihre Karten und gibt seinem Partner Zeichen. Sehen Sie, wie er sich mal am linken und mal am rechten Ohr kratzt, mal mit dem einen und mal mit dem anderen Auge zwinkert und ab und an in ein Taschentuch schneuzt? Das alles sind Signale für Tomlinson, die der Ratte Aufschluß über die Blätter der anderen geben.«
»Wir müssen die Spieler vor den Betrügern warnen!« ereiferte sich Martin.
»Lassen Sie's gut sein, Mr. Bauer«, erwiderte Devlin beschwichtigend. »Mein Bedarf an Aufregungen ist für heute gedeckt. Außerdem bezweifle ich, daß die Leute auf Sie hören werden, es überhaupt wollen. Die sind doch froh, ein wenig Abwechslung zu haben. Und die bieten ihnen Männer wie Tomlinson und Potter nun einmal.«
»Eine seltsame Art von Abwechslung, bei der man um sein sauer verdientes Geld betrogen wird«, fand Jacob.
»Seltsam vielleicht für Ihre Welt, aber nicht für den Mississippi.«
Die vier Männer stiegen hinauf aufs Kesseldeck, wo sie ein ruhiges Plätzchen an der Backbordreling fanden und längliche Zigarillos rauchten, die Devlin in einem silbernen, mit seinen Initialen verzierten Etui anbot. Schweigend standen sie auf das Geländer gestützt und betrachteten das leicht gekräuselte, dunkel glitzernde Wasser, das den Mond und die Lichter der im Hafen liegenden Schiffe reflektierte.
Jacobs Augen fixierten sich auf ein seltsames Licht, das an der Bordwand der QUEEN OF NEW ORLEANS entlangzuwandern schien, erst vom Bug nach achtern und dann wieder zurück. Als ginge unten auf dem Hauptdeck jemand mit einer sich im Wasser spiegelnden Laterne hin und her. Nur wanderte das Licht im Wasser mit einer solchen Geschwindigkeit, daß die Person mit der Laterne hätte rennen müssen. Ein Verhalten, das bei den vielen Menschen und Frachtstücken auf dem Hauptdeck so gut wie unmöglich war.
Als das Licht den Bug des Schiffes wieder erreicht hatte, wanderte es erneut nach achtern. Jacob beugte sich weit über das Geländer, um zu sehen, wer oder was für diese Lichtspiegelung verantwortlich war. Aber er konnte nichts entdecken.
Das seltsame Licht faszinierte ihn. Es hatte eine andere Form als die übrigen Lichtspiegelungen, war durch das Wasser nicht so länglich verzerrt wie sie, sondern fast rund. Es schien sich nicht um eine Spiegelung zu handeln, sondern aus dem Wasser zu kommen.
»Was haben Sie, Mr. Adler?« fragte Devlin.
Jacob machte ihn und die anderen auf seine Entdeckung aufmerksam, und aller Augen richteten sich auf das seltsame Leuchten.
»Vermutlich geht unter uns jemand mit einer Laterne hin und her«, meinte dann auch der Spieler. »Bloß zu welchem Zweck?«