Ich hatte mir so lange beigebracht, nichts zu wollen, was man mir nicht anbot, daß ich jetzt nur wenige Bedürfnisse hatte. Ich hatte nie große Entscheidungen getroffen. Was ich hatte, war einfach so gekommen.
Harold Osborne hatte mir zusammen mit dem Job als Jockey in seinem Rennstall das Häuschen angeboten. Ich hatte angenommen. Die Bank hatte eine Hypothek angeboten. Ich hatte angenommen. Der Autohändler hatte einen bestimmten Wagen vorgeschlagen. Ich hatte ihn gekauft.
Mir war klar, warum ich so war, wie ich war. Ich wußte, warum ich mich einfach treiben ließ, wohin es mich trug. Ich wußte, warum ich passiv war, aber ich verspürte nicht das geringste Bedürfnis, mich zu ändern, Krach zu schlagen oder darauf zu bestehen, daß ich der Herr meines Schicksals war.
Ich wollte nicht nach meiner Halbschwester suchen, und ich wollte meinen Job bei Harold nicht verlieren. Ich konnte mich einfach so weitertreiben lassen wie bisher, ohne etwas Konkretes zu unternehmen… und doch kam mir dieses instinktive Verhalten aus irgendeinem obskuren Grunde zunehmend faul vor.
Gereizt zog ich mich an und ging nach unten. Im Vorbeigehen sah ich kurz bei Steve hinein, der selig schlief.
Irgend jemand hatte nach dem Einbruch am Beerdigungstag den Küchenboden sauber gemacht und einen ganzen Berg zerbrochenes Geschirr und verschüttete Lebensmittel zusammengefegt. Kaffee und Zucker lagen dort im Staub, das hatte ich schon gestern abend gesehen, aber im Kühlschrank waren Eier und Milch, von der ich etwas trank. Dann schlenderte ich zum Zeitvertreib durch die Zimmer im Erdgeschoß und sah mich etwas um.
Der Raum, der einst George Millaces Dunkelkammer gewesen war, wäre der bei weitem interessanteste gewesen, wenn sich etwas darin befunden hätte; aber gerade da waren die Einbrecher besonders gründlich gewesen. Bis auf eine breite Arbeitsplatte an der einen Seite, zwei großen tiefen Ausgußbecken auf der anderen und reihenweise leeren Regalbrettern an der Rückwand war nichts darin vorhanden. An den vielen Schmutzrändern und Flecken an den Wänden konnte man erkennen, wo die umfangreiche Ausrüstung gestanden hatte, und Kleckse auf dem Boden zeigten an, wo er seine Chemikalien aufbewahrt hatte.
Ich wußte, daß er häufig seine Farbfilme selbst entwik-kelt und abgezogen hatte, was die meisten professionellen Fotografen nicht taten. Das Entwickeln von Farbdias und Farbnegativen war kompliziert und erforderte großes Geschick, und es war besser, ein großes Labor damit zu beauftragen, wenn man gleichbleibend gute Ergebnisse erzielen wollte. Duncan und Charlie hatten ihre Farbfilme immer weggegeben. Nur die Abzüge hatten sie selbst gemacht, was erheblich leichter ist.
George Millace war ein Meister seines Fachs gewesen. Schade, daß er ein so unfreundlicher Mensch war.
Soweit man sehen konnte, hatte er zwei Vergrößerungsapparate besessen, einen großen und einen kleineren. Ein Vergrößerungsapparat besteht im wesentlichen aus einem an einer Stange befestigten Kasten, in den das Negativ so eingespannt wird, daß der Lichtschein einer starken Lampe durch den Film hindurch auf eine darunterliegende Platte fallen kann.
Der Kopf des Apparates, in dem sich die Lichtquelle und das Negativ befinden, läßt sich an der Stange höher und tiefer stellen. Je höher der Kopf über der Platte steht, desto größer wird das Bild. Je niedriger der Kopf, desto kleiner das Bild. Ein Vergrößerungsapparat ist eigentlich ein Projektor und die Platte die Leinwand.
Wenn man einen Abzug von einem Negativ machen will, muß man den Kopf des Apparats, je nach gewünschtem Format, höher oder tiefer schrauben, dann das Objektiv scharf stellen, im Dunkeln das Fotopapier auf die Platte legen, ein paar Sekunden lang Licht durch das Negativ auf das Papier fallen lassen, das Papier in den Entwickler legen, neutralisieren, fixieren, wässern und — Hokuspokus fidibus — schon hat man, wenn man keine Fingerabdrücke hinterlassen hat, einen sauberen Abzug in der gewünschten Größe.
Neben den Vergrößerungsapparaten hatte George sicher eine elektrische Trickkiste besessen, mit der er die Belichtungszeit steuern konnte, dazu massenhaft Ausrüstung für den Entwicklungsprozeß und einen Trockner zum Trocknen der fertigen Abzüge. Er hatte sicher bergeweise Fotopapier in unterschiedlichen Größen und Härtegraden gehabt, und lichtundurchlässige Behälter, um es aufzubewahren. Er hatte bestimmt reihenweise Ordner gehabt, in denen er seine Werke griffbereit hatte, und Dunkelkammerlampen und Meßbecher und Papierschneider und Filter.
Das alles war bis aufs letzte Fitzelchen verschwunden.
Wie die meisten ernsthaften Fotografen hatte er seine nicht entwickelten Filme im Kühlschrank aufbewahrt. Sie waren auch weg, hatte Steve gesagt, und sie waren wahrscheinlich der Anlaß für die Verwüstung der Küche gewesen.
Ich schlenderte ziellos ins Wohnzimmer, machte das Licht an und fragte mich, wann ich wohl Steve wecken konnte, um ihm zu sagen, daß ich los ging. Das halb aufgeräumte Zimmer sah kalt und trist aus, ein erbärmlicher Anblick für die arme Mrs. Millace, wenn sie wieder nach Hause kam. Aus Gewohnheit und weil ich nichts weiter zu tun hatte, machte ich langsam da weiter, wo ich letzte Nacht aufgehört hatte, hob Scherben von Vasen und Nippes auf und sammelte unter den Stühlen verstreute Garnrollen und Nähutensilien ein.
Halb unterm Sofa lag ein großer lichtundurchlässiger Umschlag, ein ganz normaler Gegenstand im Haus eines Fotografen. Ich sah hinein, aber er schien weiter nichts zu enthalten als ein durchsichtiges, dickliches Stück Plastik, etwa zwanzig Quadratzentimeter groß und an drei Seiten glatt abgeschnitten, an der vierten wellig. Auch Abfall. Ich steckte es in den Umschlag zurück und warf ihn in den Papierkorb.
George Millaces Abfallschachtel stand offen und leer auf dem Tisch. Ohne besonderen Grund und sicherlich von nichts weiter als Fotografenneugier getrieben, nahm ich mir den Papierkorb vor und leerte ihn wieder auf den Teppich aus. Dann legte ich alle groben Schnitzer von George in die Schachtel zurück, in der er sie aufbewahrt hatte, und warf die Glas- und Porzellanscherben wieder in den Papierkorb.
Ich sah mir die verdorbenen Abzüge und Filmschnipsel an und fragte mich, warum George sie wohl aufgehoben hatte. Fotografen waren, genau wie Ärzte, sehr darauf bedacht, ihre Kunstfehler schnell zu vertuschen, sie ließen sie eigentlich nicht als ständige Erinnerung an Katastrophen auf Zeitungsständern herumliegen. Rätsel hatten mir schon immer Spaß gemacht. Ich dachte mir, daß es ziemlich interessant wäre herauszufinden, warum gerade diese Dinge hier für einen Fachmann wie George von Interesse gewesen waren.
Steve kam im Schlafanzug nach unten. Er wirkte zerbrechlich, hielt sich den verletzten Arm und sah matt dem Tag entgegen.
«Mein Gott«, sagte er,»du hast ja alles aufgeräumt.«
«Warum nicht?«
«Ich danke dir. «Er sah die volle Abfallschachtel auf dem Tisch.»Er hat den Kram früher in der Tiefkühltruhe aufbewahrt«, sagte er.»Meine Mutter hat mir erzählt, daß es einmal ein Riesentrara gegeben hat, als die Tiefkühltruhe defekt war und die ganzen Erbsen und das Zeug aufgetaut sind. Die Hähnchen und so und die selbstgemachten Pasteten, die verdorben waren, waren meinem Vater völlig egal. Aber daß ein bißchen Eiscreme auf seinen Abfallkram ausgelaufen war, darüber hätte er sich gar nicht mehr eingekriegt.«Über Steves müdes Gesicht huschte ein Lächeln der Erinnerung.»Es muß eine herrliche Szene gewesen sein. Sie fand es furchtbar komisch, und als sie gelacht hat, ist er immer wütender geworden. «Er brach ab, das Lächeln erstarb.»Ich kann’s einfach nicht fassen, daß er nie wiederkommt.«
«Hat dein Vater oft Sachen in der Tiefkühltruhe aufbewahrt?«
«Aber sicher. Natürlich. Unmengen. Du kennst ja die Fotografen. Ständig in Panik, daß die Farben sich nicht halten. Er hat es dauernd davon gehabt, daß sein Werk in zwanzig Jahren dahin sein wird. Er meinte, der einzige Weg zum Nachruhm führe über die Tiefkühltruhe, und nicht mal das sei sicher.«