«Der letzte Folk da«, erklärte Jeremy bescheiden,»das bin ich.«
«Herzlichen Glückwunsch«, sagte ich.
Er lächelte mich scheu an und räusperte sich.
«Man hat mich geschickt… ähm… Ich bin hier, um Sie zu bitten, daß… ähm…«Er stockte, wirkte hilflos und ganz und gar nicht wie ein Anwalt.
«Daß was?«sagte ich ermutigend.
«Die meinten, daß es Ihnen gar nicht recht sein wird. aber, also… Man hat mich geschickt, um Sie zu bitten, ähm…«
«Raus damit«, sagte ich.
«Sie sollen Ihre Großmutter aufsuchen. «Die Worte purzelten überstürzt hervor, und er schien erleichtert, daß er sie los war.
«Nein«, sagte ich.
Er sah mir prüfend ins Gesicht, und meine Gelassenheit schien ihm Mut zu machen.
«Sie liegt im Sterben«, sagte er.»Und sie möchte Sie sehen.«
Vom Tod umgeben, dachte ich. George Millace und die Mutter meiner Mutter. In beiden Fällen war es nicht weiter bedauerlich.
«Haben Sie verstanden?«sagte er.
«Ja.«
«Also dann. Geht es heute?«
«Nein«, sagte ich.»Ich gehe nicht zu ihr.«
«Aber Sie müssen. «Er sah besorgt aus.»Ich meine… Sie ist alt. und stirbt bald und sie will Sie.«
«Sehr bedauerlich.«
«Und wenn ich Sie nicht dazu bringen kann, wird mein Onkel… das ist der Sohn…«Er zeigte wieder auf die Visitenkarte und wurde zunehmend nervöser.»Ähm, Folk ist mein Großvater, und Langley ist mein Großonkel und. ähm… sie haben mich geschickt…«Er schluckte.»Sie sind der Meinung, daß ich absolut nichts tauge, um es ehrlich zu sagen.«
«Und das ist Erpressung«, sagte ich.
Ein schwaches Leuchten in seinen Augen verriet mir, daß er im Grunde nicht so dämlich war, wie er sich gab.
«Ich will sie nicht sehen«, sagte ich.
«Aber sie liegt im Sterben.«
«Haben Sie sich mit eigenen Augen davon überzeugt?«
«Ähm… nein.«
«Wetten, sie stirbt nicht. Wenn sie mich sehen will, behauptet sie einfach, daß sie bald stirbt, nur um mich einzufangen, weil sie denkt, daß sie mich nur so kriegt.«
Er wirkte schockiert.»Sie ist immerhin achtundsiebzig.«
Ich sah düster in den Dauerregen hinaus. Ich war meiner Großmutter nie begegnet und wollte ihr nie begegnen, weder sterbend noch tot. Ich hielt nichts von Reue am Totenbett, Beteuerungen am Höllentor kurz vor Torschluß. Es war verdammt noch mal zu spät.
«Es bleibt bei nein«, sagte ich.
Er zuckte entmutigt die Achseln und schien aufzugeben. Lief ein paar Schritte in den Regen hinaus, barhäuptig, verwundbar, ohne Schirm. Drehte sich nach zehn Schritten wieder um und kam zögernd näher.
«Hören Sie… mein Onkel sagt, sie braucht Sie wirklich. «Er gab sich ernst und eifrig wie ein Missionar.»Sie können sie nicht einfach sterben lassen.«
«Wo ist sie?«sagte ich.
Er strahlte.»In einem Pflegeheim. «Er kramte in einer anderen Jackentasche.»Ich habe die Adresse. Aber ich bringe Sie hin, jetzt gleich, wenn Sie mitkommen. Es ist in St. Albans. Sie wohnen doch in Lambourn? Es liegt also nicht so sehr weit ab von Ihrem Weg. Jedenfalls keine hundert Kilometer oder so was.«
«Aber immerhin gute fünfzig.«
«Tja… nun ja… Sie sind es ja gewohnt, ziemlich viel durch die Gegend zu fahren.«
Ich seufzte. Eins war so schlimm wie das andere. Eine Wahl zwischen duckmäuserischer Kapitulation und eiskalter Ablehnung. Beides ungenießbar. Daß sie mir seit meiner Geburt eiskalte Ablehnung entgegengebracht hatte, war wohl keine Entschuldigung für mich, sie auf dem Sterbebett genauso zu behandeln. Ich konnte sie auch kaum weiterhin selbstgefällig verachten, wie ich es jahre-lang getan hatte, wenn ich ihrem Vorbild folgte. Ärgerlich!
Der Winternachmittag verdämmerte bereits, von Minute zu Minute leuchtete das verschwommene Licht der elektrischen Lampen heller durch den Regen. Ich dachte an mein leeres Häuschen; da gab’s nicht viel, um den Abend auszufüllen, zwei Eier, ein Stück Käse und schwarzen Kaffee zum Abendessen; die Lust, mehr zu essen, und den Zwang, es sich zu verkneifen. Wenn ich mitkam, dachte ich, würde das meine Gedanken zumindest vom Essen ablenken, und wenn mir etwas bei meinem ständigen Kampf gegen die Pfunde half, konnte es nicht nur von Übel sein. Selbst wenn es sich um eine Begegnung mit meiner Großmutter handelte.
«Also gut«, sagte ich resigniert,»bringen Sie mich hin.«
Die alte Frau saß aufrecht in ihrem Bett und starrte mich an. Falls sie im Begriff war zu sterben, dann gewiß nicht an diesem Abend. Aus ihren dunklen Augen sprach größte Lebenskraft und in ihrer Stimme lag keinerlei Todesschwäche.
«Philip«, stellte sie fest und taxierte mich von oben bis unten.
«Ja.«
«Ha!«
In diesem explosiven Laut schwang sowohl Triumph als auch Verachtung mit. Genau das hatte ich erwartet. Mit ihrem eisernen Willen hatte sie meine Kindheit zerstört und bei ihrer eigenen Tochter noch weit größeres Unheil angerichtet, und ich stellte zu meiner Erleichterung fest, daß ich mich auf keinerlei sentimentales Flehen um Verzeihung gefaßt machen mußte. Die Devise war immer noch Ablehnung, wenn auch in gemäßigter Form.
«Ich wußte, daß du sofort angerannt kommst, wenn du von dem Geld hörst«, sagte sie. Ihr kalter Hohn war nicht zu überbieten.
«Was für Geld?«
«Die hunderttausend Pfund natürlich.«
«Von Geld hat niemand was gesagt«, sagte ich.
«Lüg nicht. Was hätte dich sonst hergetrieben?«
«Man hat mir gesagt, daß du im Sterben liegst.«
Sie bedachte mich mit einem verblüfften, boshaften Blitz aus ihren Augen und einem Zähneblecken, das nichts mit einem Lächeln zu tun hatte.»Früher oder später trifft es jeden.«
«Genau«, sagte ich.»Und wir bezahlen alle den gleichen Preis. Eines Tages, wenn die Zeit reif ist.«
Sie entsprach wahrlich nicht dem Idealbild einer lieben, kleinen, rosenwangigen Oma. Ein hartes, stures Gesicht mit tief eingegrabenen Falten der Mißbilligung um den Mund herum. Eisgraues Haar, immer noch kräftig, sauber und gut frisiert. Ihre bleiche Haut war braun gefleckt von Alterssommersprossen, und auf ihren Handrücken wölbten sich dunkle Adern. Eine magere Frau, fast ausgemergelt, und hochgewachsen, soweit ich das beurteilen konnte.
Der große Raum, in dem sie lag, war eher wie ein Wohnzimmer mit Bett als wie ein Krankenzimmer eingerichtet. Das paßte zu dem Gesamteindruck, den ich bei meinem Gang durch das Haus gewonnen hatte. Ein umfunktioniertes Landhaus: Hotel mit Pflegepersonal. Überall Teppiche, lange Chintzvorhänge, Blumensträuße. Kultiviertes Sterben, dachte ich.
«Ich habe Mr. Folk Anweisung gegeben, dir das Angebot zu machen«, sagte sie.
Ich überlegte.»Dem jungen Mr. Folk? Etwa fünfundzwanzig? Jeremy?«
«Unsinn. «Sie war ungehalten.»Mr. Folk, meinem Anwalt. Ich habe ihn beauftragt, dich hierherzuschaffen. Und er hat seinen Auftrag erfüllt. Du bist hier.«
«Er hat seinen Enkel geschickt.«
Ich trat von ihrem Bett zurück und setzte mich unaufgefordert in einen Sessel. Warum hatte Jeremy wohl die hunderttausend Pfund nicht erwähnt? Eine Kleinigkeit, die man eigentlich nicht so leicht vergaß.
Meine Großmutter starrte mich ohne jedes Zeichen der Zuneigung unentwegt an und ich starrte zurück. Mir mißfiel ihre Gewißheit, daß man mich kaufen konnte. Ihre Verachtung stieß mich ab, und ich mißtraute ihren Absichten.
«Ich werde dir in meinem Testament hunderttausend Pfund vermachen, unter gewissen Bedingungen«, sagte sie.
«Nein, das wirst du nicht tun«, sagte ich.
«Wie bitte?«Eiskalte Stimme, versteinerter Blick.
«Ich sagte nein. Kein Geld. Keine Bedingungen.«
«Hör dir erst mal meinen Vorschlag an.«
Ich sagte nichts. Ehrlich gesagt, regte sich eine gewisse Neugier in mir, aber das durfte sie auf keinen Fall merken. Da sie es offenbar nicht eilig hatte, dehnte sich das Schweigen aus. Weitere Bestandsaufnahme ihrerseits, vielleicht. Reine Geduld meinerseits. Da ich unter völlig ungeordneten Umständen aufgewachsen war, besaß ich die nahezu grenzenlose Fähigkeit zu warten. Auf Leute zu warten, die nicht kamen; und auf Versprechen, die nicht erfüllt wurden.