Der eine oder andere lachte, die erste Anspannung hatte sich gelöst, aber alle empfanden echtes Mitleid mit Steve, und er redete weiter davon, erzählte es jedem, der es hören wollte. Und ich hörte zu, nicht nur weil sein Kleiderhaken in Sandown direkt neben meinem war, so daß mir kaum etwas anderes übrig blieb, sondern weil wir uns auf eine alltägliche, oberflächliche Art gut verstanden.
«Sie haben Vaters Dunkelkammer ausgeräumt«, sagte er.»Einfach alles rausgerissen. Und es war sinnlos. ich hab’s der Polizei erzählt. weil sie nicht nur Sachen mitgenommen haben, die man verkaufen kann, wie Vergrößerungsapparat und Entwickler und das Zeug, sondern sein ganzes Werk, die ganzen Bilder, die er in all den Jahren gemacht hat, alle weg. Es ist zum Heulen. Meine Mutter mitten in dem Chaos, und mein Vater tot, und jetzt bleibt ihr nicht mal mehr das, womit er sich sein Leben lang beschäftigt hat. Einfach nichts. Und sie haben ihre
Pelzjacke mitgenommen und sogar das Parfüm, das er ihr zum Geburtstag geschenkt hat und das sie noch gar nicht aufgemacht hatte, und da sitzt sie jetzt und heult.«
Er hielt plötzlich inne und schluckte, als wäre alles zuviel für ihn. Obwohl er nicht mehr zu Hause lebte, war er mit seinen dreiundzwanzig Jahren noch ganz das Kind seiner Eltern und hielt, so schwierig das manchmal war, stets zu ihnen, was die meisten Leute bewunderten. George Millace war zwar allgemein unbeliebt gewesen, aber sein Sohn hatte nie etwas auf ihn kommen lassen.
Steve war schmal gebaut, hatte leuchtende dunkle Augen und gab mit seinen abstehenden Ohren eine leicht komische Figur ab, war von seiner Veranlagung her aber eher verbissen als humorvoll, und neigte dazu, zwanghaft auf allem herumzureiten, was ihn aufregte, selbst wenn er nicht soviel Grund dazu hatte wie heute.
«Die Polizei sagt, Einbrecher machen das aus purer Boshaftigkeit«, sagte Steve,». den Leuten die Häuser versauen und ihre Fotos stehlen. Sie haben Mutter gesagt, das käme ständig vor. Sie meinen, wir könnten froh sein, daß nicht alles vollgepißt und vollgeschissen sei, das passierte nämlich oft, und sie hätte Glück gehabt, daß sie die Sessel und Sofas nicht aufgeschlitzt hätten und die ganzen Möbel verkratzt. «Jedem Neuankömmling berichtete er zwanghaft, was passiert war, aber ich kleidete mich fertig um und ging hinaus zum ersten Rennen, und für den Rest des Nachmittags vergaß ich den Millace-Einbruch mehr oder weniger.
Auf den heutigen Tag freute ich mich seit fast einem Monat, obwohl ich mich dagegen gewehrt hatte. Heute lief Daylight im Sandown Handicap-Hindernisrennen. Ein großes Rennen, ein gutes Pferd, mäßige Gegner und große Gewinnchancen. Mit einer solchen Konstellation hatte ich es äußerst selten zu tun und wußte sie daher zu schätzen, aber ich wagte nie richtig daran zu glauben, bis ich nicht wirklich auf dem Weg zum Zielpfosten war. Man hatte mir mitgeteilt, daß Daylight gesund und munter auf der Rennbahn eingetroffen war, und ich mußte nur noch das erste Rennen, ein Hindernisrennen für Pferde, die gerade erst eingesprungen worden waren, überstehen, und könnte dann, vielleicht, das große HandicapHindernisrennen gewinnen, worauf ein halbes Dutzend Leute sich gegenseitig über den Haufen rennen würde, um mir den Favoriten für den Gold Cup anzubieten.
Ich ritt im Durchschnitt zwei Rennen pro Tag, und wenn ich am Ende der Saison unter den ersten Zwanzig auf der Jockey-Rangliste stand, war ich glücklich. Jahrelang war es mir gelungen mir selbst weiszumachen, daß mein mäßiger Erfolg darauf zurückzuführen war, daß ich größer und schwerer war, als es für meinen Job günstig ist. Obwohl ich ständig halb am Verhungern war wog ich unbekleidet fünfundsechzigeinhalb Kilo und kam folglich nicht an die unzähligen Pferde heran, die mit fünfundsechzig Kilo oder weniger ins Rennen gingen. Fast in jeder Saison ritt ich ungefähr zweihundert Rennen mit etwa vierzig Siegen, und ich wußte, daß ich allgemein als >stark<, >zuverlässig<, >gut am Hindernis< und >nicht erstklassig bei einem langen Finish< galt.
In jungen Jahren glauben die meisten Leute, daß sie in ihrer selbstgewählten Welt einmal ganz an die Spitze ge-langen werden, und daß der Aufstieg nur eine Formalität ist. Ohne diesen Glauben würde man wohl gar nicht erst anfangen. Irgendwo auf der Strecke hebt man dann den Blick zum Gipfel und sieht ein, daß man ihn nie erreichen wird; und Glück bedeutet dann, hinunterzuschauen und die Aussicht zu genießen, die man hat, und nicht die herbeizuwünschen, die man nicht hat. So etwa mit sechsundzwanzig hatte ich mich mit der Aussicht zufriedengegeben, die ich gewonnen hatte, hatte akzeptiert, daß ich nicht weiterkommen würde, und seltsamerweise hatte mich diese Erkenntnis ganz und gar nicht bedrückt, sondern vielmehr erleichtert. Ich war nie extrem ehrgeizig, aber immer bestrebt, mein Bestes zu leisten. Und besser ging es dann eben nicht. Es ging nicht, und damit basta. Trotzdem hätte ich sozusagen nicht direkt was dagegen, wenn man mir Gold Cup-Gewinner aufdrängte.
An diesem Nachmittag in Sandown brachte ich das Hürdenrennen der Frischlinge ereignislos hinter mich (>brauchbar, aber ohne Feuer<) und lief als Fünfter von achtzehn ein. Nicht übel. Eben das Beste, was ich und das Pferd an diesem Tag leisten konnten, wie üblich.
Ich legte die Farben von Daylight an und ging zu gegebener Zeit hinaus in den Führring, ganz erfüllt von der Vorfreude auf das bevorstehende Rennen. Daylights Trainer, für den ich regelmäßig ritt, erwartete mich dort, desgleichen sein Besitzer.
Daylights Besitzer tat mein freundliches» Wunderbar, daß es nicht mehr nieselt «mit einer Handbewegung ab und sagte ohne Einleitung:»Sie werden heute verlieren, Philip.«
Ich lächelte.»Nicht, wenn ich es verhindern kann.«
«Sie werden es verhindern«, sagte er scharf.»Sie verlieren. Mein Geld läuft auf der andern Schiene.«
Vermutlich sah man mir meine Bestürzung und meine Wut deutlich an. Ich hatte so was früher schon gemacht, aber das war etwa drei Jahre her, und er wußte, daß es mir nicht paßte.
Victor Briggs, der Besitzer von Daylight, war ein stämmig gebauter Mann in den Vierzigern, über dessen Job und Herkunft ich so gut wie nichts wußte. Ungesellig und verschlossen, tauchte er mit abweisendem, finsterem Gesicht bei den Rennen auf und wechselte kaum ein Wort mit mir. Er trug stets einen schweren marineblauen Mantel, einen schwarzen breitkrempigen Hut und dicke schwarze Lederhandschuhe. Er war früher ein aggressiver Wetter gewesen, und als sein Reiter war mir nichts anderes übrig geblieben, als zu tun, was er wollte, sonst hätte ich meinen Job bei dem Rennstall verloren. Harold Osborne, der Trainer, hatte mir schon bald, nachdem ich bei ihm angefangen hatte, offen gesagt, daß ich weg vom Fenster war, wenn ich nicht tat, was Victor Briggs wollte.
Ich hatte Rennen für Victor Briggs verloren, die ich hätte gewinnen können. So lief das nun mal. Ich mußte essen und die Hypothek auf meinem Haus abbezahlen. Deshalb brauchte ich einen guten, großen Rennstall, für den ich reiten konnte, und wenn ich den einen, bei dem man mir eine Chance gegeben hatte, verlassen hätte, hätte ich vielleicht keinen anderen gefunden. So groß war die Auswahl auch wieder nicht, und einmal abgesehen von Victor Briggs waren die Bedingungen bei Osborne ganz in Ord-nung. Also hatte ich, wie viele andere Reiter, die in der gleichen Klemme steckten, getan, was man mir befahl, und den Mund gehalten.
Ganz zu Anfang hatte Victor Briggs mir ein ordentliches Sümmchen geboten fürs Verlieren. Ich hatte es nicht angenommen. Ich würde verlieren, wenn ich mußte, aber kassieren würde ich dafür nicht. Er sagte, ich sei ein aufgeblasener junger Idiot, aber als ich sein Angebot zum zweiten Mal ausgeschlagen hatte, behielt er seine Mäuse und seine Meinung über mich für sich.
«Warum nehmen Sie’s nicht an?«hatte Harold Osborne gesagt.»Immerhin verlieren Sie die zehn Prozent, die Sie für einen Sieg bekämen. Mr. Briggs entschädigt Sie dafür, mehr nicht.«
Ich hatte den Kopf geschüttelt, und er hatte nicht insistiert. Ich dachte, daß ich vielleicht wirklich ein Idiot war. Aber irgendwann hatte wohl Samantha oder Chloe oder wer auch immer mir die unwillkommene, unbequeme Einstellung vermittelt, daß man für seine Sünden büßen mußte. Drei Jahre lang oder mehr war ich nicht mehr in der prekären Lage gewesen; um so ärgerlicher war es, jetzt wieder damit konfrontiert zu sein.