«Dir geht’s ziemlich mies, stimmt’s?«sagte sie.
Ich wollte es nicht bestätigen. Ich sagte:»Wieviel Uhr ist es?«
«Halb vier… geht auf vier zu. «Sie sah auf ihre Uhr.»Zwanzig vor vier.«
«Macht euch was zu essen«, sagte ich.»Du und Jeremy.«
«Willst du auch was?«
«Nein.«
Sie nahmen etwas Suppe und Brot zu sich und hielten das Leben in Gang. Es ist der einzige Tag, den ich je auf der Treppe verbracht habe, dachte ich dümmlich. Ich konnte den Staub im Teppich riechen. Mir tat alles weh, ununterbrochen, ein bohrender, steifer Schmerz, aber immer noch besser als die Krämpfe; und langsam konnte ich mich auch wieder bewegen. Bald war Bewegung unumgänglich, dachte ich. Ein Anzeichen, daß sich die Dinge wieder normalisierten… Ich mußte dringend zur Toilette.
Ich setzte mich auf, den Rücken gegen die Wand gestützt.
Nicht übel. Nicht übel. Kein Krampf.
Ein wahrnehmbarer Fortschritt bei der Funktion der Muskeln. Die Erinnerung an Kraft schien nicht mehr in weiter Ferne. Ich könnte aufstehen, dachte ich, wenn ich es versuchte.
Clare und Jeremy erschienen mit fragenden Gesichtern, und ohne falschen Stolz ergriff ich ihre hilfreichen Hände und zog mich hoch.
Schwankend, aber aufrecht.
Keine Krämpfe.
«Und was jetzt?«sagte Clare.
«Pinkeln.«
Sie lachten. Clare ging in die Küche, und Jeremy sagte was von Wegwischen der angetrockneten Blutlache, während er mich am Arm durch die Diele führte.
«Bemühen Sie sich nicht«, sagte ich.
«Kein Problem.«
Ich hielt mich ein Weilchen an der Handtuchstange im Bad fest, blickte in den Spiegel über dem Waschbecken und sah, in was für einem Zustand sich mein Gesicht befand. Geschwollene, unförmige Landschaft. Nicht wiederzuerkennen. Da und dort sah man das offene Fleisch. Da und dort dunkelrote Flecken. Überkrustet mit angetrocknetem Blut, das Haar stachelig verfilzt davon. Ein Auge in aufgequollenen Falten verloren, das andere als Schlitz sichtbar. Aufgerissene violette Lippen. Zwei eingeschlagene Vorderzähne.
Eine Woche schätzungsweise, dachte ich seufzend. Boxer machten so was ständig, aus freien Stücken, die Blödmänner.
Das Entleeren der Blase machte mir bewußt, daß mein Unterleib schwer traktiert worden war, aber gleichzeitig war ich auch beruhigt: kein Blut im Urin. Meine Eingeweide mochten etwas abgekriegt haben, aber nie waren die Füße von Pferden oder Menschen mit voller Wucht direkt auf einer Niere gelandet. Ich hatte Glück gehabt. Außergewöhnliches Glück. Gott im Himmel sei Dank.
Ich ließ etwas warmes Wasser ins Waschbecken ein und tupfte etwas von dem angetrockneten Blut ab. War mir insgesamt nicht sicher, ob es ein Fortschritt war, weder im Hinblick auf mein Wohlbefinden noch auf mein Aussehen. Wo das Blut gewesen war, sah man jetzt weitere offene Stellen und verklebte Wunden. Ich tupfte die gewaschenen Stellen vorsichtig mit einem Papiertuch trocken. Den Rest laß ich lieber, dachte ich.
Draußen in der Diele gab es einen gewaltigen Schlag.
Ich zog die Badezimmertür auf und sah Clare mit angstvollem Blick aus der Küche kommen.
«Ist alles in Ordnung?«sagte sie.»Du bist nicht gestürzt?«
«Nein. es muß Jeremy gewesen sein.«
Ohne Eile gingen wir in den vorderen Teil des Hauses, um nachzusehen, was ihm runtergefallen war. und sahen, daß Jeremy selbst mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden lag. In der Tür der Dunkelkammer, halb drin, halb draußen. Der Wassereimer, den er getragen hatte, war um ihn herum verschüttet, und in der Luft lag ein Geruch… ein Gestank nach faulen Eiern. Ich kannte den Geruch. Ich…
«Was…«, setzte Clare an.
Jesus Christus, dachte ich, und es war ein Gebet, kein Fluch. Ich packte sie heftig um die Taille und schob sie zur Eingangstür. Öffnete. Schubste sie nach draußen.
«Bleib dort«, sagte ich nachdrücklich.»Bleib draußen. Es ist Gas.«
Ich pumpte meine Lungen voll mit dunkler Winterluft und kehrte zurück. Fühlte mich so schwach. so verzweifelt. Beugte mich über Jeremy. Packte seine Handgelenke, eins mit jeder Hand, und zog.
Zog und zerrte ihn über die weißen Fliesen, zog ihn, schleifte ihn, verspürte dabei ein tödliches Zittern in meinen schwachen Armen und Beinen. Raus aus der Dunkelkammer, durch die Diele zur Eingangstür. Nicht weit. Knappe vier Meter. Meine Lungen platzten schier, brauchten Luft. aber nicht diese Luft. nicht faule Eier.
Clare ergriff einen Arm von Jeremy und zog mit mir, und zusammen zogen wir die bewußtlose Gestalt auf die Straße hinaus. Ich schubste die Tür hinter mir zu und kniete mich auf die kalte Straße, würgend und japsend, und kam mir vollkommen nutzlos vor.
Clare hämmerte schon gegen die Tür des Nachbarhauses und kam mit dem Lehrer zurück, der dort wohnte.
«Beatmen Sie. ihn«, sagte ich.
«Mund zu Mund?«Ich nickte.»Gut. «Er kniete sich neben Jeremy und fing ohne weitere Fragen an, ihn wiederzubeleben, eine Übung, mit der er sich auskannte.
Clare verschwand und kam gleich wieder zurück.
«Ich hab einen Krankenwagen gerufen«, sagte sie.»Aber sie wollen wissen, um was für ein Gas es sich handelt. Sie sagen, es gibt in Lambourn kein Gas. Sie wollen wissen… was sie mitbringen sollen.«
«Ein Beatmungsgerät. «Meine eigene Brust fühlte sich bleiern an. Das Atmen fiel mir schwer.»Sag ihnen… es handelt sich um Schwefel. Irgendein Schwefelgas. Tödlich. Sie sollen sich beeilen.«
Sie sah entsetzt drein und rannte ins Haus des Lehrers zurück, und ich lehnte mich auf den Knien schwach gegen die Wand meines Hauses und hustete und fühlte mich sterbenselend. Schuld daran waren nicht meine alten Probleme, es waren die neuen. Es war das Gas.
Jeremy rührte sich nicht. Lieber Gott, dachte ich, lieber Herr Jesus, laß ihn leben.
Das Gas in meiner Dunkelkammer war für mich bestimmt gewesen, nicht für ihn. So mußte es sein. Es mußte irgendwie da drin gewesen sein, mußte mich all die Stunden, die ich draußen in der Diele gelegen hatte, erwartet haben.
Mir schwirrte der Kopf: Jeremy, nicht sterben, dachte ich. Jeremy, es ist meine Schuld. Nicht sterben. Ich hätte George Millaces Abfall verbrennen sollen. hätte das Zeug nicht benutzen dürfen… uns nicht in die Nähe… in die Nähe des Todes bringen dürfen.
Aus allen Häusern kamen Leute mit Decken und entsetzten Blicken. Der Lehrer erfüllte weiter seine Pflicht, wenn ich auch aus seinem Verhalten und aus flüchtigen Blicken auf sein Gesicht schließen konnte, daß er es für sinnlos hielt.
Nicht sterben…
Clare fühlte Jeremys Puls. Ihr Gesicht war aschfahl.
«Ist er…?«sagte ich.
«Ein Flattern.«
Nicht sterben.
Der Lehrer faßte wieder Mut und machte unermüdlich weiter. Ich hatte das Gefühl, als zöge sich ein Band um meine Rippen zusammen und quetschte mir die Lungen. Ich hatte nur ein paar Züge Gas und Luft eingeatmet. Jeremy hatte reines Gas eingeatmet. Und Clare.
«Was ist mit deiner Brust?«fragte ich sie.
«Eng«, sagte sie.»Schrecklich.«
Die Menge um uns herum schien anzuwachsen. Der Krankenwagen kam, und ein Streifenwagen und Harold und ein Arzt und halb Lambourn.
Fachkundige Hände lösten den Lehrer ab und pumpten Luft in und aus Jeremys Lungen, und Jeremy selbst lag da wie ein Klotz, während der Arzt ihn untersuchte und während man ihn auf eine Bahre hob und in den Krankenwagen schob.
Sein Puls war zu spüren. Ganz schwach. Das war alles, was sie sagen wollten. Sie schlossen die Tür hinter ihm und fuhren ihn nach Swindon.
Nicht sterben, betete ich. Laß ihn nicht sterben. Es ist meine Schuld.
Ein Feuerwehrauto fuhr vor, mit Männern in Atemschutzgeräten. Sie gingen mit ihren Meßgeräten zur Hinterseite des Hauses und kamen dann durch die Vordertür wieder auf die Straße. Soweit ich mitbekam, was sie zur Polizei sagten, rieten sie von näheren Untersuchungen ab, bis die Giftgaskonzentration sich erheblich verringert hatte.