Im Empfangsbüro sagten sie mir höflich, daß ihnen kein Fotomaterial bekannt sei, das wie Plastikfolie oder Schreibmaschinenpapier aussah. Ob ich das Material dabeihätte?
Nein, hatte ich nicht. Ich wollte nicht, daß es untersucht wurde, falls es lichtempfindlich sei. Könnte ich noch jemand anderen sprechen?
Schwierig, meinten sie.
Ich machte keinerlei Anstalten zu gehen. Vielleicht könnte Mr. Christopher mir weiterhelfen, überlegten sie schließlich, wenn er nicht zu beschäftigt sei.
Mr. Christopher war etwa neunzehn, mit einem asozialen Haarschnitt und einer chronischen Erkältung. Dennoch hörte er aufmerksam zu.
«Ist das Papier oder die Plastikfolie nicht beschichtet?«
«Ich glaube nicht.«
Er zuckte die Achseln.»Dann ist ja alles klar.«
«Was ist klar?«
«Keine Bilder.«
Ich saugte an meinen abgebrochenen Zähnen und stellte ihm eine scheinbar unsinnige Frage:
«Wofür könnte ein Fotograf Ammoniak brauchen?«
«Für nichts. Nicht für Fotos. Ich kenne keinen Entwickler oder Bleicher oder Fixierer, der reines Ammoniak enthält.«»Gibt es hier jemand, der sich in so was auskennen könnte?«fragte ich.
Er warf mir einen mitleidigen Blick zu, der besagte, daß niemand etwas wissen konnte, was er nicht wußte.
«Vielleicht könnten Sie mal fragen«, versuchte ich ihn zu überreden.»Denn wenn es ein Verfahren gibt, bei dem Ammoniak verwendet wird, würden Sie es doch sicher gern wissen.«
«Klar. Ich denke schon.«
Er nickte mir kurz zu und verschwand, und ich wartete eine Viertelstunde und fragte mich, ob er essen gegangen war. Aber er kam mit einem grauhaarigen älteren Mann mit Brille zurück, der nicht gerade begeistert wirkte, aber die gewünschte Information lieferte.
«Ammoniak wird bei fototechnischen Arbeiten in Ingenieurbüros benutzt«, sagte er.»Zur Herstellung von Blaupausen, wie man es im Volksmund nennt. Genaugenommen ist es natürlich ein Diazoverfahren.«
«Könnten Sie mir das bitte erläutern?«sagte ich unterwürfig und voller Dankbarkeit.
«Was ist mit Ihrem Gesicht passiert?«sagte er.
«Hab bei einem Streit den Kürzeren gezogen.«
«Puh.«
«Diazoverfahren«, sagte ich,»was ist das?«
«Sie bekommen eine Zeichnung. eine technische Zeichnung, meine ich. von einem technischen Zeichner. Sagen wir mal von einem Maschinenteil. Eine Zeichnung mit exakten Angaben zur Herstellung. Können Sie mir folgen?«
«Ja.«
«Der Betrieb braucht mehrere Kopien von der Originalzeichnung. Also macht man Blaupausen davon. Oder besser gesagt, eben nicht.«
«Ähm…«
«Bei Blaupausen wird das Papier blau«, belehrte er mich streng,»und die gezeichneten Linien bleiben weiß. Heutzutage ist das Papier weiß und die Linien erscheinen schwarz oder dunkelrot.«
«Erzählen Sie bitte weiter.«
«Von Anfang an?«sagte er.»Die Originalzeichnung, die natürlich auf Transparentpapier ist, wird auf Diazopapier, also Lichtpauspapier, gelegt und mit einer Glasplatte angepreßt. Diazopapier ist auf der Rückseite weiß und auf der Seite, die mit dem ammoniakempfindlichen Farbstoff beschichtet ist, gelb oder grünlich. Die Originalzeichnung wird für eine genau bemessene Zeitspanne mit starkem Karbonbogenlicht durchleuchtet. Dieses Licht bleicht sämtlichen Farbstoff auf dem darunterliegenden Diazopa-pier aus, nur nicht unter den Linien der Originalzeichnung. Das Diazopapier wird dann in heißem Ammoniakdampf entwickelt, und die Farblinien werden sichtbar, werden dunkel. Wollten Sie das wissen?«
«Genau das«, sagte ich voller Ehrfurcht.»Sieht Diaz-opapier wie Schreibmaschinenpapier aus?«
«Das ist möglich, wenn es auf die entsprechende Größe zugeschnitten ist.«
«Und wie sieht es mit einer leer aussehenden Plastikfolie aus?«
«Hört sich nach Diazofilm an«, sagte er ruhig.»Um den zu entwickeln, braucht man keinen heißen Ammoniakdampf. Da kann man mit kalter Flüssigkeit arbeiten. Aber passen Sie auf. Ich habe von Karbonbogenlicht gesprochen, weil man in Ingenieurbüros damit arbeitet, aber eine längere Bestrahlung mit Sonnenlicht oder irgendeiner anderen Lichtquelle hat den gleichen Effekt. Wenn das Stück Film, das Sie da haben, leer aussieht, bedeutet das, daß der gelbe Farbstoff bereits zum größten Teil ausgeblichen ist. Wenn da eine Zeichnung drauf ist, dürfen Sie es nicht noch weiterem Licht aussetzen.«
«Ab wieviel Licht wird’s gefährlich?«sagte ich besorgt.
Er schürzte die Lippen.»Im Sonnenlicht würden Sie alle Spuren des Farbstoffs in dreißig Sekunden auf immer verlieren. Bei normaler Zimmerbeleuchtung… in fünf bis zehn Minuten.«
«Es ist in einem lichtundurchlässigen Umschlag.«
«Dann könnten Sie Glück haben.«
«Und die Papierbögen. die sehen auf beiden Seiten weiß aus.«
«Dasselbe in Grün«, sagte er.»Sie waren Licht ausgesetzt. Vielleicht ist eine Zeichnung drauf, vielleicht nicht.«
«Wie produziere ich heißen Ammoniakdampf, um es herauszubekommen?«
«Ganz einfach«, sagte er, als würde jeder sich mit so etwas auskennen.»Sie gießen etwas Ammoniak in einen Topf und erhitzen ihn. Dann halten Sie das Papier darüber. Es darf nicht naß werden. Nur mit Dampf in Berührung kommen.«
«Möchten Sie vielleicht Champagner zum Mittagessen?«fragte ich zögernd.
Ich kehrte gegen sechs Uhr mit einem billigen Topf und zwei Flaschen Ajax zu Samanthas Haus zurück. Meine Oberlippe war betäubt, und ein paar Muskeln waren durch Drücken, Kneten und Trainieren bis zu einem gewissen Grade wiederbelebt. Außerdem war ich todmüde, kein gutes Vorzeichen für den nächsten Tag, wo ich wieder fit sein mußte, weil laut Harolds telefonischer Benachrichtigung in Sandown Park zwei Pferde meiner Dienste harrten.
Samantha war ausgegangen. Clare, die ihre Arbeit auf dem ganzen Küchentisch ausgebreitet hatte, unterzog mich einer raschen abschätzenden Musterung und schlug einen doppelten Brandy vor.
«Er ist im Schrank neben Salz, Mehl und Gewürzen. Brandy zum Kochen. Schenk mir bitte auch einen ein.«
Ich setzte mich eine Weile zu ihr an den Tisch, nippte hübsch artig an dem widerlichen Zeug und fühlte mich danach erheblich besser. Ihr dunkler Kopf war über das Buch gebeugt, an dem sie arbeitete. Die fähige Hand griff dann und wann nach dem Glas, ihre Gedanken waren ganz bei der Arbeit.
«Würdest du gern mit mir zusammenleben?«sagte ich.
«Hast du gefragt.?«
Sie sah zerstreut auf und runzelte fragend die Stirn.
«Ja, genau das«, sagte ich.»Willst du mit mir zusammenleben?«
Sie wandte endlich die Aufmerksamkeit von ihrer Arbeit ab. Mit einem Lächeln in den Augen sagte sie:»Ist das eine akademische Frage oder ein ernstgemeintes Angebot?«
«Ein Angebot.«
«Ich könnte nicht in Lambourn wohnen«, sagte sie.»Zu weit zum Pendeln. Du könntest nicht hier wohnen. zu weit weg von den Pferden.«
«Irgendwo in der Mitte.«
Sie sah mich fragend an.»Ist das wirklich dein Ernst?«
«Ja.«
«Aber wir haben doch…«, sie stockte, und es war klar, was sie meinte.
«Noch nicht zusammen geschlafen.«
«Na ja.«
«Prinzipiell«, sagte ich.»Was hältst du davon?«
Um Zeit zu gewinnen, nippte sie an ihrem Glas. Ich hatte das Gefühl, eine halbe Ewigkeit zu warten.
«Man sollte es auf einen Versuch ankommen lassen«, sagte sie schließlich.
Ich lächelte zutiefst befriedigt.
«Schau nicht so selbstgefällig drein«, sagte sie.»Trink deinen Brandy, ich mache inzwischen mein Buch fertig.«
Sie senkte wieder den Kopf, kam aber nicht weit mit Lesen.
«Es hat keinen Sinn«, sagte sie.»Wie soll ich hier arbeiten…? Komm, wir machen uns was zu essen.«