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«Gut… vergessen wir’s.«

«Das wird nicht schwer sein«, sagte ich. Ich sah auf den adretten dunklen Mantel, die weiße Bommelmütze, die hohen glänzenden Stiefel. Sah die großen grauen Augen und den freundlichen Mund. Unglaublich, dachte ich, daß so jemand vor dem Waageraum auf mich wartete. Was ganz schön anderes, als sich alleine auf den Heimweg zu machen. Wie ein Feuer in einem kalten Haus. Wie Zucker auf Erdbeeren.

«Würde es dir viel ausmachen, wenn wir einen Umweg machen?«sagte ich.»Ich möchte nämlich gerne kurz bei meiner Großmutter vorbeischauen.«

Der alten Frau ging es deutlich schlechter. Sie war nicht mehr aufrecht gebettet, sondern lag kraftlos zurückgesunken in ihren Kissen, und sogar ihre Augen schienen den Kampf aufzugeben und versprühten nichts mehr von der wachen Aggressivität.

«Hast du sie mitgebracht?«sagte sie.

Immer noch keine Begrüßung, keine Einleitung. Es war vielleicht falsch, von dem äußerlichen Wandel auf einen Wandel ihrer inneren Einstellung zu schließen. Vielleicht hatte sich meine Einstellung zu ihr gewandelt. und unverändert waren nur ihre Haßgefühle mir gegenüber geblieben.

«Nein«, sagte ich.»Ich habe sie nicht mitgebracht. Sie ist verschollen.«

«Du hast gesagt, du findest sie.«

«Sie ist verschollen.«

Sie hustete schwächlich, die schmale Brust zuckte. Ihre Augenlider schlossen sich ein paar Sekunden und öffneten sich dann wieder. Eine schwache Hand zupfte an dem Laken.

«Vermach James dein Geld«, sagte ich.

Mit einem schwachen äußerlichen Echo ihrer inneren Sturheit schüttelte sie den Kopf.

«Dann vermach einen Teil einem Wohltätigkeitsverein«, sagte ich.»Vermach es einem Hundeasyl.«

«Ich kann Hunde nicht ausstehen. «Ihre Stimme war schwach. Ihre Überzeugungen nicht.

«Wie wär’s mit der Lebensrettungsgesellschaft für Seeleute?«

«Kann das Meer nicht ausstehen. Werde seekrank.«

«Medizinische Forschung?«

«Hat mir nicht gerade weitergeholfen.«

«Also dann«, sagte ich zögernd,»könntest du es vielleicht einer religiösen Vereinigung hinterlassen.«

«Bist du verrückt? Ich kann Religion nicht ausstehen. Verursacht nur Ärger. Führt zu Kriegen. Keinen Pfennig bekommen die von mir.«

Ich nahm unaufgefordert im Sessel Platz.

«Kann ich irgend etwas für dich tun?«fragte ich.»Außer Amanda finden, natürlich. Soll ich dir irgendwas besorgen? Möchtest du irgend etwas haben?«

Sie ließ ein schwaches Schnauben hören.»Glaub nur nicht, daß du dich bei mir einschmeicheln kannst, damit ich dir Geld vermache, denn das tue ich nicht.«

«Ich würde einer sterbenden Katze Wasser geben, selbst wenn sie mir ins Gesicht spuckt.«

Ihr Mund öffnete sich und erstarrte angesichts dieser Beleidigung.

«Was. fällt dir. ein?«

«Was fällt dir ein, immer noch zu glauben, ich würde für dein Geld auch nur einen Finger krumm machen?«

Die Lippen schlossen sich zu einem dünnen Strich.

«Kann ich dir etwas besorgen?«wiederholte ich ruhig.»Willst du irgend etwas haben?«

Sie antwortete zunächst nicht und sagte dann:»Geh.«

«Ja, gleich«, sagte ich.»Aber ich möchte dir zuerst noch etwas anderes vorschlagen. «Ich wartete kurz, aber da sie nicht sofort widersprach, fuhr ich fort:»Willst du nicht vielleicht einen Treuhänderfonds für Amanda einrichten, für den Fall, daß sie doch noch gefunden wird? Leg das Kapital fest, und setz massenhaft gute Treuhänder ein. Regle es so, daß sie selbst nicht an das Geld herankann. und auch kein anderer, der… vielleicht… hinter ihrem Geld her ist. Regle es so, daß niemand außer Amanda davon profitieren kann. durch ein Einkommen, das nur auf Anordnung der Treuhänder ausgezahlt wird.«

Sie beobachtete mich mit halb gesenkten Augenlidern.

«Wo immer sie auch sein mag«, sagte ich,»fest steht, daß Amanda nicht älter als siebzehn oder achtzehn ist. Zu jung, um ohne Absicherung eine Menge Geld zu erben. Hinterlaß es ihr. mit einer eisernen Absicherung.«

«Ist das alles?«

«Mhm.«

Sie lag ruhig und unbeweglich da.

Ich wartete. Ich hatte mein ganzes Leben darauf gewartet, daß meine Großmutter mir etwas anderes als Bosheit entgegenbrachte. Ich konnte ewig warten.

«Geh jetzt«, sagte sie.

Ich stand auf und sagte:»Wie du willst.«

Ging zur Tür und legte die Hand auf die Klinke.

«Schick mir ein paar Rosen«, sagte meine Großmutter.

Wir fanden in der Stadt einen Blumenladen, der noch offen hatte, wenn sie auch schon am Saubermachen waren, weil sie zumachen wollten.

«Ist ihr denn nicht klar, daß wir Dezember haben?«sagte Clare.»Rosen kosten zur Zeit ein Vermögen.«

«Glaubst du, du würdest dir darüber Gedanken machen, wenn du im Sterben lägst und gern Rosen hättest?«

«Vielleicht nicht.«

Alles, was wir in dem Blumenladen bekommen konnten, waren fünfzehn sehr kleine rosa Knospen auf sehr langen, dünnen Stengeln. Rosen seien im Moment nicht sehr gefragt. Diese seien von einer Hochzeit übriggeblieben.

Wir fuhren zum Pflegeheim zurück und übergaben sie einer Schwester, mit der Bitte, sie sofort zu übergeben, zusammen mit einer Karte, auf der stand, daß ich nächste Woche schönere besorgen würde.

«Sie hat es nicht verdient«, sagte Clare.

«Arme alte Frau.«

Wir übernachteten in einem Gasthaus an der Themse, mit alten Balken, gutem Essen und Zimmerfenstern, die auf kahle Weiden und träges braunes Wasser hinausgingen.

Niemand kannte uns. Wir trugen uns als Mr. und Mrs. ein, aßen ausgedehnt zu Abend und zogen uns unauffällig auf unser Zimmer zurück. Es sei nicht das erste Mal für sie, sagte sie, ob es mir etwas ausmache? Ich sagte, es sei mir sogar lieber. Keine Vorliebe für Jungfrauen? Überhaupt keine Ticks, soweit ich wüßte. Gut, meinte sie.

Es begann freundschaftlich und wurde immer leidenschaftlicher. Endete in Atemlosigkeit und Gelächter, ebbte ab in Gemurmel und Schlaf. So schön hatte ich es noch nie erlebt. Wie es für sie war, konnte ich nicht sagen. Aber sie hatte nichts gegen eine Wiederholung am Morgen.

Am Nachmittag besuchten wir in friedlichem Einklang Jeremy.

Er lag in einem Einzelzimmer auf einem hohen Bett, eine gewaltige Ausrüstung zur künstlichen Beatmung neben sich. Aber er atmete aus eigenen Kräften, mit seinen eigenen Lungen. Eine Vorsorgemaßnahme, schätzte ich, da während unseres Besuches alle zehn Minuten eine Schwester hereinkam, um sich zu vergewissern, daß der Klingelknopf auch die ganze Zeit unter seinem Finger war.

Er wirkte noch magerer als sonst und blaßgrau, aber sein Verstand hatte nicht gelitten. Die Augen blickten so intelligent wie eh und je, und die Trottelmasche wurde heftig bemüht zur Überspielung seiner unwürdigen Lage. Bei jedem Kontrollgang mußte die Schwester eine Ladung ermüdendes Geschwafel über sich ergehen lassen.

Ich versuchte, mich für das, was er durchgemacht hatte, zu entschuldigen. Er wollte nichts davon hören.

«Vergessen Sie nicht, daß ich aus freien Stücken da war«, sagte er.»Niemand hat mich dazu genötigt. «Er sah mich prüfend von oben bis unten an.»Ihr Gesicht sieht gut aus. Wieso heilt das bei Ihnen so schnell?«

«Das tut’s immer.«

«Immer…«Er lachte kurz auf.»Komisches Leben führen Sie. Ständig am Heilen.«

«Wie lange müssen Sie noch hier bleiben?«

«Drei oder vier Tage.«

«Länger nicht?«sagte Clare überrascht.»Sie sehen. ähm…«

Er sah weißer aus als das Kissen, auf dem sein Kopf lag. Aber er nickte und sagte:»Ich kann viel besser atmen. Wenn keine Gefahr mehr besteht, daß die Nerven noch einmal versagen, kann ich gehen. Sonst ist alles in Ordnung.«»Ich fahre Sie nach Hause, wenn Sie einen Fahrer brauchen«, sagte ich.

«Ich komme darauf zurück.«

Wir blieben nicht lange, weil das Reden ihn sichtlich ermüdete, aber kurz bevor wir gingen, sagte er:»Dieses Gas hat unheimlich schnell gewirkt. Nicht so langsam wie das Gas beim Zahnarzt. Mir blieb keine Zeit zu reagieren. als hätte ich eine Backsteinmauer eingeatmet.«