Weil Jeremy so hartnäckig war, hatte ich nach Amanda gesucht, und weil ich nach Amanda gesucht hatte, hatte ich eine Großmutter, einen Onkel und eine Schwester kennengelernt. Ich wußte jetzt etwas über meinen Vater. Ich hatte ein Gefühl für meine Herkunft, das ich vorher nicht besessen hatte.
Ich hatte Angehörige. Angehörige wie jeder andere auch. Sie waren nicht unbedingt liebevoll oder lobenswert oder erfolgreich, aber sie existierten. Ich hatte sie nicht gewollt, aber jetzt, da ich sie hatte, waren sie fest wie Grundsteine in meinem Kopf verankert.
Weil ich nach Amanda gesucht hatte, hatte ich Samantha gefunden und damit ein Gefühl der Kontinuität, der Zugehörigkeit. Ich sah das Muster meiner Kindheit aus einer anderen Perspektive, nicht als zerstückeltes Kaleidoskop, sondern als Kurve. Ich kannte einen Ort, wo ich gelebt hatte, eine Frau, die mich als Kind gekannt hatte, und von da aus schien ein glatter Weg zu Charlie zu führen.
Ich trieb nicht länger mit der Flut.
Ich hatte Wurzeln.
Ich erreichte die Stelle auf dem Hügel, von der aus ich auf mein Haus hinuntersehen konnte, den Vorsprung, den ich von meinem Wohnzimmerfenster aus sah. Ich blieb stehen. Ich sah fast ganz Lambourn vor mir liegen. Ich konnte Harolds Haus und den Hof sehen. Konnte die ganze Häuserreihe sehen, mit meinem Haus in der Mitte.
Ich hatte zu diesem Dorf gehört, war ein Teil davon gewesen, hatte sieben Jahre lang seine Intrigen geatmet. Hatte glückliche Zeiten durchgemacht, unglückliche, normale. Es war das, was ich mein Zuhause genannt hatte. Aber nun war ich im Herzen und im Geist dabei, den Ort zu verlassen. und bald würde ich mich auch körperlich entfernen. Ich würde an einem anderen Ort leben, mit Clare. Ich würde Fotograf werden.
Die Zukunft lag in mir; sie wartete, ich hatte sie angenommen. Der Tag war nicht fern, an dem ich in sie eintreten würde.
Ich würde bis zum Ende dieser Saison Rennen reiten, dachte ich. Noch fünf oder sechs Monate. Im Mai oder Juni, wenn der Sommer kam, würde ich dann meine Stiefel an den Nagel hängen. Abtreten, wie jeder Jockey es früher oder später tun mußte.
Ich würde es Harold bald erzählen, damit er Zeit hatte, bis zum Herbst einen anderen zu finden. Ich würde die letzte Zeit genießen, und vielleicht eine letzte Chance beim Grand National bekommen. Alles war möglich. Man konnte nie wissen.
Ich hatte immer noch Appetit, immer noch die Konstitution. Besser abtreten, bevor sich beides verflüchtigte, fand ich.
Ich ging ohne jedes Bedauern den Hügel hinab.
Kapitel 21
Clare kam zwei Tage später mit dem Zug, um die Fotos aus meinem Aktenschrank herauszusuchen, die sie haben wollte: Für eine Mappe, sagte sie. Da sie jetzt meine Agentin sei, würde sie das Geschäft ankurbeln. Ich lachte. Es sei ihr Ernst, beteuerte sie.
Ich hatte an dem Tag kein Rennen. Ich hatte vereinbart, Jeremy vom Krankenhaus abzuholen und ihn nach Hause zu bringen, und Clare sollte mich begleiten. Außerdem hatte ich Lance Kinship angerufen, um ihm mitzuteilen, daß seine Abzüge schon ewig fertig seien, ich ihn aber nie gesehen hätte. Ich fragte ihn, ob es ihm recht sei, wenn ich sie ihm heute brächte, weil ich praktisch an seinem Haus vorbeikäme.
Das wäre nett, meinte er. Früher Nachmittag, schlug ich vor, und er sagte >Klar< und ließ das >r< weg. Und ich wolle ihn dann gern etwas fragen, und er sagte:»Ach? Nur zu. Was Sie wollen.«
Jeremy sah erheblich besser aus, seine Haut war nicht mehr so grau und feucht wie am Sonntag. Wir halfen ihm auf den Rücksitz meines Autos und wickelten ihn in eine Wolldecke, die er entrüstet abschüttelte. Er sei kein Invalide, sondern ein durch und durch lebenstüchtiger Anwalt.
«Und übrigens, mein Onkel ist gestern bei mir gewesen«, sagte er.»Schlechte Nachrichten für Sie, fürchte ich. Die alte Mrs. Nore ist Montagnacht gestorben.«
«O nein«, sagte ich.
«Sie haben’s ja gewußt«, sagte Jeremy.»War nur eine Frage der Zeit.«
«Ja, aber.«
«Mein Onkel hat mir zwei Briefe für Sie mitgegeben. Sie sind irgendwo in meinem Koffer. Suchen Sie sie raus, bevor wir losfahren.«
Ich fischte sie heraus und las sie gleich auf dem Krankenhaus-Parkplatz.
Einer war ein Brief, der andere eine Kopie des Testaments.
Jeremy sagte:»Mein Onkel hat erzählt, man habe ihn dringend ins Pflegeheim gerufen, um ihr Testament aufzusetzen, und der Arzt hat dann meinem Onkel klargemacht, daß die Zeit drängte.«
«Wissen Sie, was drinsteht?«fragte ich.
Er schüttelte den Kopf.»Mein Onkel hat nur gesagt, daß sie bis zur letzten Minute eine sture alte Frau war.«
Ich faltete die betippten Papierbögen auseinander.
Ich, Lavinia Nore, widerrufe hiermit im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte sämtliche vorherigen Testamente…
Es folgte eine Menge juristischer Quatsch und eine komplizierte Pensionsregelung für einen alten Koch und einen Gärtner, dann kamen die beiden letzten, recht einfachen Absätze:
>… Die Hälfte meines restlichen Vermögens an meinen Sohn James Nore…<
>Die Hälfte meines restlichen Vermögens an meinen Enkel
Philip Nore, zur freien Verfügung ohne Einschränkungen oder eiserne Absicherung.<
«Was ist los?«sagte Clare.»Du siehst so finster drein.«»Die alte Hexe… hat mich geschlagen.«
Ich öffnete den anderen Umschlag. Darin befand sich ein Brief in zittriger Handschrift, ohne Anrede und Schluß.
Er lautete:
Ich glaube, Du hast Amanda gefunden und hast es mir nicht erzählt, weil es mir keine Freude bereitet hätte. Ist sie Nonne?
Du kannst mit meinem Geld machen, was Du willst. Wenn es Dich zum Kotzen bringt, wie Du einmal gesagt hast… dann KOTZE.
Oder vermach es meinem Erbgut.
Scheußliche Rosen.
Ich reichte Jeremy und Clare das Testament und den Brief, und sie lasen beides. Wir saßen eine Weile nachdenklich da, und dann faltete Clare den Brief zusammen, steckte ihn in den Umschlag und gab ihn mir zurück.
«Was willst du machen?«sagte sie.
«Ich weiß es nicht. Dafür sorgen, daß Amanda nie Hunger leiden muß, schätze ich. Davon abgesehen.«
«Freuen Sie sich darüber«, sagte Jeremy.»Die alte Dame hat Sie geliebt.«
Ich horchte auf die Ironie in seiner Stimme und fragte mich, ob es stimmte. Liebe oder Haß. Liebe und Haß. Vielleicht hatte sie beides auf einmal empfunden, als sie das Testament gemacht hatte.
Wir fuhren von Swindon Richtung St. Albans und machten einen kurzen Abstecher, um Lance Kinships Abzüge abzuliefern.
«Tut mir leid«, sagte ich,»aber es wird nicht lange dauern.«
Es schien ihnen nichts auszumachen. Wir fanden das Haus ohne große Schwierigkeiten. typisch Kinship: auf georgianisch gemacht, große imposante Fassade, Torbogen mit Säulen, magere Auffahrt.
Ich nahm das Päckchen mit den Fotos aus dem Kofferraum und klingelte an der Haustür.
Lance öffnete persönlich, heute nicht in Gutsherrenkluft, sondern in weißen Jeans, Espadrilles und einem rotweißen Ringel-T-Shirt. Internationaler Regisseuraufzug, diagnostizierte ich. Es fehlte ihm nur das Megaphon.
«Kommen Sie rein«, sagte er.»Ich bezahl sie Ihnen gleich.«
«O.k. Kann aber nicht lange bleiben, weil meine Freunde warten.«
Er sah kurz zu meinem Wagen hinüber, wo die interessierten Gesichter von Clare und Jeremy durch die Scheibe zu sehen waren, und ging dann hinein. Ich folgte ihm. Er führte mich in ein großes Wohnzimmer mit einer riesigen Parkettfläche und zu vielem schwarz lackiertem Mobiliar. Chrom- und Glastische. Art-deco-Lampen.