»Und wir werden es auch nie erfahren.« Amüsiert und beeindruckt von Nickys Wissen, rief Sloane: »Schön dumm!«
Weder er noch Jessica konnten sich noch genau erinnern, wann Nicky zum ersten Mal Interesse an Musik gezeigt hatte, aber er war auf jeden Fall noch sehr jung gewesen, und nun war die Musik Nickys Hauptbeschäftigung.
Nicky hatte eine Vorliebe für das Klavier und erhielt Unterricht von einem ehemaligen Konzertpianisten, einem alten Österreicher, der im nahen New Rochelle lebte. Erst vor einigen Wochen hatte der Lehrer mit seinem starken Akzent zu Jessica gesagt: »Ihr Sohn hat es in der Musik bereits zu einer Meisterschaft gebracht, die für sein Alter ungewöhnlich ist. Später einmal wird er verschiedene Wege einschlagen können -als Konzertpianist oder Komponist, oder vielleicht als Wissenschaftler und Gelehrter. Aber noch viel wichtiger ist, daß die Musik mit Engelszungen der Freude zu Nicholas spricht. Sie ist ein Teil seiner Seele. Ich prophezeihe Ihnen, die Musik wird zum Mittelpunkt von Nicholas' Leben werden.«
Jessica sah auf die Uhr. »Nicky, es ist schon spät.«
»Ach Mom, nur noch ein bißchen. Morgen haben wir doch schulfrei.«
»Du hast trotzdem einen anstrengenden Tag vor dir. Ich sage nein.«
Jessica war der Zuchtmeister der Familie, und so ging Nicky, nach herzlichen Gutenachtküssen, auf sein Zimmer. Bald darauf hörten sie ihn auf seinem tragbaren elektronischen Piano spielen, das er immer benutzte, wenn der Flügel im Wohnzimmer nicht zur Verfügung stand.
Jessica brachte die Martinis in das sanft erhellte Wohnzimmer. Während sie die Drinks eingoß, dachte er: Kann man denn glücklicher sein? Dieses Gefühl hatte er oft bei Jessica, wenn sie ihn, auch nach über zwanzig Jahren Ehe noch, verwöhnte. Sie trug die Haare nicht mehr lang und machte sich auch nicht mehr die Mühe, ihre grauen Strähnen zu verbergen. An ihren Augen zeigten sich Fältchen. Aber sie war schlank und wohlgeformt, und nach ihren Beinen drehten sich die Männer noch immer um. Eigentlich hatte sie sich kaum verändert, und Sloane war noch immer stolz, mit Jessica an seiner Seite einen Raum zu betreten.
Sie gab ihm sein Glas und bemerkte: »Es muß ein anstrengender Tag gewesen sein.«
»War es auch. Hast du die Nachrichten gesehen?«
»Ja. Die armen Leute in diesem Flugzeug. Was für eine entsetzliche Art zu sterben. Die müssen doch von Anfang an gewußt haben, daß sie keine Chance haben, und dann können sie nur dasitzen und warten.«
Sloane bekam plötzlich Gewissenbisse, als er merkte, daß er daran noch gar nicht gedacht hatte. Manchmal war man als Nachrichtenprofi so sehr damit beschäftigt, Sensationen zusammenzutragen, daß man die menschlichen Wesen, die den Stoff dafür lieferten, völlig vergaß. Ist es die Abgestumpftheit nach der langen Zeit im Nachrichtengewerbe oder nur eine notwendige Distanzierung, wie auch Ärzte sie sich zulegen, fragte er sich. Er hoffte, das letztere.
»Wenn du den Bericht aus Dallas gesehen hast«, sagte er, »dann hast du auch Harry gesehen. Wie hat er dir gefallen?«
»Er war gut.«
Jessicas Antwort klang gleichgültig. Sloane beobachtete sie, er wartete auf mehr und fragte sich: Ist die Vergangenheit für sie wirklich tot und begraben?
»Harry war mehr als gut. Das war einfach genial«, sagte Sloane und schnippte mit den Fingern. »Ohne Vorwarnung. Und unter irrsinnigem Zeitdruck.« Er erzählte ihr von dem Glücksfall, daß die CBA-Crew sich zu der Zeit im Flughafen aufgehalten hatte. »Harry, Rita und Minh haben es geschafft. Die anderen Sender hatten keine Chance.«
»Harry und Rita scheinen oft zusammenzuarbeiten. Läuft da was zwischen den beiden?«
»Nein. Die sind einfach ein gutes Team.« »Woher weißt du das?«
»Weil Rita eine Affäre mit Les Chippingham hat. Die beiden glauben, daß es keiner weiß. Aber natürlich weiß es jeder.«
Jessica lachte. »O Gott. Ihr seid vielleicht ein inzestuöser Haufen.«
Leslie Chippingham war der Präsident von CBA News. Mit ihm wollte Sloane tags darauf über die Entlassung von Chuck Insen als Studioleiter sprechen.
»Denk nur nicht, daß ich da auch mitmische«, sagte er zu ihr. »Ich bin glücklich mit dem, was ich zu Hause habe.«
Der Martini hatte ihn entspannt, wie jeden Abend, obwohl weder er noch Jessica starke Trinker waren. Ein Martini und ein Glas Wein zum Essen war ihre Grenze, und tagsüber trank Sloane überhaupt nicht.
»Dir geht's gut heute abend«, bemerkte Jessica, »und gleich geht's dir noch besser.« Sie stand auf, ging zu dem kleinen Schreibtisch an der gegenüberliegenden Wand und brachte ihm einen bereits geöffneten Umschlag. Da Jessica meistens die Post erledigte, war das nichts Ungewöhnliches. »Es ist ein Brief von deinem Verleger und eine Tantiemenabrechnung.«
Er nahm die Papiere, und während er las, huschte ein Lächeln über sein Gesicht.
Crawford Sloanes Buch Die Kamera und die Wahrheit war bereits vor einigen Monaten veröffentlicht worden. Es war sein drittes, das er mit Unterstützung eines Mitarbeiters verfaßt hatte.
Was die Verkaufszahlen betraf, hatte das Buch einen langsamen Start gehabt. In New York hagelte es Verrisse, denn keiner der Kritiker in der Metropole wollte sich die Gelegenheit entgehen lassen, jemanden von Sloanes Format niedermachen zu können. Doch in Städten wie Chicago, Cleveland, San Francisco und Miami wurde es von der Kritik freundlich aufgenommen. Und wichtiger noch, nach einigen Wochen wurden bestimmte Passagen in politischen Leitartikeln zitiert -die beste Werbung, die ein Buch haben konnte.
In einem Kapitel über Terrorismus und Geiselnahme schrieb Sloane sehr offen über »die Scham, die die meisten Amerikaner empfanden, als sie 1986/87 erfuhren, daß ihre Regierung die Freiheit einer Handvoll Geiseln im Mittleren Osten mit Tausenden von toten und verstümmelten Irakern, nicht nur auf dem iranisch-irakischen Schlachtfeld, sondern auch unter der Zivilbevölkerung, erkauft hatte«.
Die Kriegsopfer, so argumentierte er, waren die Folge von Waffenlieferungen, die der Iran als Gegenleistung für die Freilassung der amerikanischen Geiseln gefordert hatte. »Einen modernen Judaslohn«, nannte Sloane diese Zahlung und zitierte dazu Kipling's Dane-geld:
We neverpay any-one Dane-geld,
No matter how trifling the cost;
For the end of that game is oppression and shame,
And the nation that pays it is lost!
Wir zahlen an niemand Tribut, Gleichgültig wie gering er auch sei. Denn das Ende vom Lied ist Unterdrückung und Not Und Schande für das Volk, das ihn zahlt.
Auch andere Bemerkungen Sloanes fanden allgemein Zustimmung:
- Kein Politiker hat den Mut, es laut auszusprechen, und doch muß man davon ausgehen, daß Geiseln im Notfall zu opfern sind.
- Das einzige Mittel zur Bekämpfung des Terrorismus ist Gegenterror, und das bedeutet, die Terroristen, wann immer möglich, aufzuspüren und sie unauffällig zu beseitigen. Das ist die einzige Sprache, die sie verstehen. Und dazu gehört auch, daß man nie, ich wiederhole, nie mit Terroristen verhandelt oder Lösegelder zahlt, ob nun auf direktem oder indirektem Weg.
- Terroristen, die sich an keinen zivilisierten Moralkodex halten, dürfen, wenn sie gefaßt werden, nicht erwarten, den Schutz von Gesetzen und Prinzipien zu genießen, die sie verachten. Die Briten, bei denen die Achtung vor dem Gesetz tief verwurzelt ist, waren bisweilen gezwungen, dieses Gesetz zu beugen, um sich selbst gegen eine amoralische und skrupellose IRA zu verteidigen.
- Was wir auch unternehmen, der Terrorismus wird nie verschwinden, weil die Regierungen und Organisationen die Terroristen unterstützen, in Wahrheit kein Interesse an einer Lösung oder Beilegung des Konflikts haben. Sie sind Fanatiker, die andere Fanatiker als Waffen benutzen.