»Wenn das nicht so ernst wäre, könnte man das Ganze für einen Spionageroman halten«, sagte Jessica. »Und welche Signale hast du vereinbart?«
»Wenn ich mir mit der Zunge die Lippen lecke, was man ja leicht unbeobachtet tun kann, heißt das: >Ich mache das gegen meinen Willen. Glaubt kein Wort von dem, was ich sage.< Wenn ich mich am rechten Ohr kratze, heißt das: >Meine Entführer sind gut organisiert und schwer bewaffnet.< Wenn es das linke Ohr ist, heißt es: >Die Bewachung hier ist eher nachlässig. Ein Angriff von außen könnte Erfolg haben.< Es gibt noch einige andere, aber das reicht fürs erste. Ich will dich mit all dem ja nicht beunruhigen.«
»Na, es beunruhigt mich aber«, erwiderte Jessica und fragte sich im stillen: Könnte das wirklich passieren? Könnte Crawf wirklich entführt und verschleppt werden? Es schien unwahrscheinlich, aber schließlich passierten jeden Tag unwahrscheinliche Dinge.
»Abgesehen von der Angst«, sagte sie nachdenklich, »muß ich zugeben, daß mich einiges davon fasziniert, weil es ein Aspekt von dir ist, den ich, soweit ich weiß, noch gar nicht kenne. Aber ich frage mich schon, warum du nicht dieses Sicherheitstraining machst, über das wir bereits gesprochen haben.«
Dieses Training war ein von einer britischen Firma, Paladin Security, angebotener Antiterror-Kurs, der bereits des öfteren in amerikanischen Nachrichtenprogrammen erwähnt worden war. Der Kurs dauerte eine Woche und war unter anderem dafür gedacht, Leute auf eine Situation vorzubereiten, wie Sloane sie eben angesprochen hatte, also darauf, wie man sich als Opfer einer Entführung zu verhalten hatte. Unterricht in waffenloser Selbstverteidigung gehörte ebenfalls dazu; und seit dem brutalen Angriff auf den CBS-Moderator Dan Rather auf einer New Yorker Straße lag Jessica Crawford in den Ohren, er solle diese Technik doch lernen. Nach dem von zwei Unbekannten verübten, völlig grundlosen Überfall mußte Rather ins Krankenhaus, die Angreifer wurden nie gefaßt.
»Das Problem ist, daß ich nie Zeit für den Kurs habe«, sagte Sloane. »Weil wir gerade davon sprechen, nimmst du noch deine CQB- Stunden?«
CQB war die Abkürzung für Close Quarters Battle, eine spezielle Nahkampfversion ohne Waffen, die von der britischen Eliteeinheit SAS praktiziert wurde. Ein pensionierter britischer Brigadier, der jetzt in New York lebte, gab diesen Kurs, und Jessica hätte es gern gesehen, wenn Crawford ihn ebenfalls besucht hätte. Doch da ihm die Zeit dazu fehlte, ging sie allein zu den Stunden.
»Nicht mehr regelmäßig«, antwortete sie. »Nur noch ungefähr zwei Stunden pro Monat, um in Übung zu bleiben, und manchmal hält Brigadier Wade Vorträge, die ich besuche.«
Sloane nickte. »Gut.«
In dieser Nacht fand Jessica nur wenig Schlaf, denn das Gespräch ging ihr nicht mehr aus dem Kopf.
Die Insassen des Ford Tempo vor dem Haus sahen zu, wie die Lichter eins nach dem anderen verlöschten. Nachdem sie über das Funktelefon ihren Bericht abgeliefert hatten, beendeten sie die Überwachung und fuhren davon.
8
Kurz nach 6 Uhr 30 wurde die Beobachtung des Hauses in Larchmont wiederaufgenommen. An diesem Morgen war es ein Chevrolet Celebrity, und die beiden Kolumbianer Carlos und Julio saßen zusammengesunken auf den Vordersitzen - eine durchaus gebräuchliche Beschattungstechnik, die verhinderte, daß die Männer von den Insassen vorbeifahrender Autos entdeckt wurden. Der Chevy stand in einiger Entfernung vom Haus in einer Seitenstraße, von der aus das ganze Gelände über die Rück- und Seitenspiegel gut einzusehen war.
Die beiden Männer im Auto waren nervös und angespannt, denn sie wußten, daß dieser Tag der entscheidende werden würde, der Höhepunkt einer langen und sorgfältigen Planung.
Um 7 Uhr 30 trat ein unvorhergesehenes Ereignis ein: Ein Taxi hielt vor dem Haus der Sloanes. Ein älterer Mann mit einem Koffer stieg aus. Er ging ins Haus und blieb dort. Die unerwartete Ankunft dieses Mannes bedeutete eine Komplikation, die über Funktelefon an das provisorische Hauptquartier der Beschatter in etwa zwanzig Meilen Entfernung gemeldet werden mußte.
Das gut funktionierende Kommunikationssystem und der umfangreiche Wagenpark kennzeichneten eine Operation, für die keine Kosten gescheut worden waren. Die Verschwörer, die diese Beschattung und das, was noch folgen sollte, initiiert und organisiert hatten, waren Experten, denen es weder an Einfallsreichtum noch an Geld fehlte.
Sie waren Verbündete des kriminellen Medellin-Kartells, einer Vereinigung kolumbianischer Drogenkönige, die Newsweek in einer Ausgabe des Jahres 1988 »reich wie General Motors und skrupellos wie Idi Amin« nannte. Die Mitglieder des Kartells, so das Magazin weiter, »kennen keine Grenzen, achten keine Moral und schrecken vor nichts zurück«.
In Kolumbien, wo das Kartell mit bestialischer Grausamkeit wütete, gingen zahllose Morde auf sein Konto, unter den Opfern auch Polizisten, Richter und Journalisten. Die Kartellführer standen in der Vergangenheit mehrfach mit der sozialistischen Guerillatruppe M-19 in Verbindung, die während eines Blutbads im Jahr 1986 neunzig Menschen, darunter die Hälfte der Mitglieder des Obersten Gerichtshofs Kolumbiens, umbrachte. Trotz seiner Greueltaten unterhielt das Medellin-Kartell enge Beziehungen zur römisch-katholischen Kirche. Ein Kardinal nahm die Mitglieder des Kartells ausdrücklich in Schutz, und ein Bischof gab offen zu, von den Drogenhändlern Geld zu erhalten.
Doch im vorliegenden Fall arbeitete das Kartell nicht für sich selbst, sondern für die peruanische, maoistische Terrororganisation Sendero Luminoso, der »Leuchtende Pfad«. In letzter Zeit hatte der Sendero Luminoso in Peru beträchtlich an Macht gewonnen, während die offizielle Regierung immer schwächer und unfähiger wurde. War früher der Herrschaftsbereich des Sendero auf die Andenregion und Zentren wie Ayacucho und Cuzco beschränkt, so überschwemmten inzwischen seine Bomben- und Killerkommandos bereits die Hauptstadt Lima. Und in Lima besaß die Bewegung darüber hinaus heimliche Sympathisanten in Armee und Regierung.
Die Verbindung zwischen Sendero Luminoso und dem Medellin-Kartell war nichts Ungewöhnliches. Der Sendero bediente sich häufig Krimineller, um Entführungen, vor allem ausländischer Staatsbürger, durchzuführen. Solche Entführungen kamen in Peru sehr oft vor, doch die amerikanischen Medien nahmen davon nur wenig Notiz.
Geld aus den Drogenhandel trug beträchtlich zur Finanzierung des Sendero bei. Weite Gebiete der von ihm kontrollierten Andenregion dienten dem Anbau der Kokapflanze. Aus den Kokapflanzen wurde Kokapaste gewonnen, die per Flugzeug von versteckten Pisten aus nach Kolumbien transportiert und dort zu Kokain weiterverarbeitet wurde.
Obwohl der Sendero Luminoso beharrlich behauptete, nicht mit Drogen zu handeln, verlangte er Tribut von jenen, die es taten - darunter eben auch das Medellin-Kartell.
Die beiden kolumbianischen Gangster im Chevrolet sahen sich eine Sammlung von Polaroidfotos an, die Carlos, eine geschickter Fotograf, von allen Personen, die in den vergangenen vier Wochen im Haus der Sloanes ein- und ausgegangen waren, gemacht hatte. Der eben eingetroffene alte Mann war nicht darunter.
Julio sprach am Telefon in verschlüsselten Sätzen.
»Eben ist ein blaues Paket eingetroffen. Lieferart Nummer zwei. Das Paket ist im Depot. Eine entsprechende Bestellung ist nicht vorhanden.« Übersetzt hieß das: Ein Mann ist angekommen. Ein Taxi hat ihn gebracht. Er hat das Haus betreten. Wir wissen nicht, wer er ist, es gibt kein Polaroid von ihm.