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»Ja?« erwiderte sie knapp.

»Eine Mrs. Crawford Sloane.«

Jessica war überrascht. »Ich bin Mrs. Sloane.«

»Tut mir leid, Madam, aber ich habe schlechte Nachrichten für Sie.« Carlos machte ein ernstes Gesicht, er spielte seine Rolle sehr gut. »Ihr Gatte hatte einen Unfall. Er ist schwer verletzt. Ein Krankenwagen hat ihn ins Doctors Hospital gebracht. Ich soll Sie begleiten. Ihr Dienstmädchen sagte mir, daß sie hier sind.«

Jessica stockte der Atem. Sie wurde totenbleich und griff sich instinktiv an die Kehle. Nicky, der eben noch die letzten Worte verstanden hatte, sah sie verwirrt an.

Angus war nicht weniger entsetzt, erholte sich aber als erster wieder und ergriff die Initiative. Er deutete auf den Einkaufswagen und sagte: »Jessica, laß alles stehen und liegen. Gehen wir.«

»Es geht um Dad, oder?« fragte Nicky.

»Leider«, erwiderte Carlos mit ernster Miene.

Jessica legte Nicky den Arm um die Schulter. »Ja, mein Liebling. Wir fahren jetzt zu ihm.«

»Bitte kommen Sie, Mrs. Sloane«, sagte Carlos. Jessica und Nicky, die von der unerwarteten, schrecklichen Nachricht noch immer etwas benommen waren, gingen schnell mit dem jungen Mann in dem braunen Anzug zum Ausgang. Angus folgte. Irgend etwas stimmte nicht, aber er wußte nicht, was.

Draußen auf dem Parkplatz ging Carlos den anderen voraus auf den Nissan Kleinbus zu. Die Türen auf der dem Volvo zugewandten Seite waren geöffnet. Carlos bemerkte, daß der Motor lief und Luis am Steuer saß. Der Schatten im hinteren Teil mußte Baudelio sein. Rafael und Miguel waren nicht zu sehen.

Sobald sie neben dem Nissan standen, sagte Carlos: »Wir nehmen diesen Wagen, Madam. Es ist... «

»Nein, nein!« Jessica suchte nervös und verängstigt in ihrer Handtasche nach den Autoschlüsseln. »Ich fahre mit meinem Auto. Ich weiß, wo das Doctors Hospital...«

Carlos stellte sich zwischen Jessica und den Volvo. Er hielt sie am Arm und sagte: »Madam, es wäre besser, wenn Sie... «

Jessica versuchte, sich loszumachen, doch Carlos packte sie fester und stieß sie vorwärts. »Lassen Sie das!« rief sie entrüstet. »Was soll denn das?« Sie dachte zum ersten Mal über die schreckliche Nachricht hinaus.

Angus, der ein paar Schritte zurückgeblieben war, wußte plötzlich, was nicht stimmte. »Er ist schwer verletzt. Ein Krankenwagen hat ihn ins Doctors Hospital gebracht«, hatte der fremde junge Mann im Supermarkt gesagt.

Aber das Doctors Hospital nahm keine Notfälle auf, Angus wußte das zufällig, weil er im Jahr zuvor einige Monate lang einen alten Kameraden aus der Luftwaffe, der dort Patient war, besucht hatte und sich deshalb gut auskannte. Das Doctors Hospital war groß und berühmt; es lag in der Nähe des Grade Mansion, dem Sitz des Bürgermeisters, und an der Straße, auf der Crawford zur Arbeit fuhr. Aber Notfälle wurden ins New York Hospital einige Blocks weiter südlich eingeliefert... Jeder Krankenwagenfahrer wußte das.

Also log der junge Mann! Die Mitteilung im Supermarkt war nur ein Vorwand gewesen! Und nun, hier draußen, ging es auch nicht mit rechten Dingen zu. Zwei Männer, die Angus ganz und gar nicht gefielen, waren plötzlich aus dem Kleinbus aufgetaucht. Der eine, ein riesiger Kerl, hatte Jessica gepackt und zerrte sie nun zusammen mit dem ersten Mann in den Bus! Nicholas, der etwas abseits stand, war noch unbeteiligt.

»Jessica, nicht!« rief Angus. »Nicky, lauf! Hol...«

Der Satz blieb unvollendet. Der Griff einer Pistole krachte Angus auf den Kopf. Er spürte einen heftigen, dumpfen Schmerz, alles drehte sich um ihn, dann fiel er bewußtlos zu Boden. Luis war blitzschnell aus dem Auto gesprungen, hatte Angus von hinten angegriffen und sich im selben Augenblick Nicky geschnappt.

Jessica begann zu schreien: »Hilfe! Ist denn da niemand?

Helft uns doch!«

Der stämmige Rafael, der Jessica zusammen mit Carlos gepackt hatte, hielt ihr seine riesige Linke vor den Mund und stieß sie mit der Rechten in den Bus. Dann sprang er selber hinein und hielt sie fest, während sie schrie und sich loszureißen versuchte. Aus ihren Augen sprach die nackte Angst. Rafael fauchte Baudelio an: »Apürate!«

Der Exdoktor hatte eine geöffnete Arzttasche neben sich und nahm nun eine Gazekompresse heraus, die er Augenblicke zuvor mit Äthylenchlorid getränkt hatte. Er hielt Jessica die Kompresse über Mund und Nase. Sofort fielen ihr die Augen zu, ihr Körper wurde schlaff, und sie verlor die Besinnung. Baudelio grunzte zufrieden, obwohl er wußte, daß die Wirkung des Äthylenchlorid nur fünf Minuten anhalten würde.

Inzwischen war auch Nicholas, der sich heftig wehrte, im Wagen. Carlos hielt in fest, während er die gleiche Behandlung wie Jessica erhielt.

Baudelio arbeitete schnell. Mit einer Schere schnitt er den Ärmel von Jessicas Kleid auf und injizierte ihr den Inhalt einer Spritze intramuskulär in den Oberarm. Die Spritze enthielt Midazo lam, ein starkes Beruhigungsmittel, das die Geiseln für mindestens eine Stunde betäuben würde. Dem Jungen gab er eine ähnliche Injektion.

In der Zwischenzeit hatte Miguel den bewußtlosen Angus zum Bus gezerrt. Rafael, der sich nun nicht mehr um Jessica kümmern mußte, sprang heraus und zog seine Pistole, ein Browning Automatic. Er entsicherte sie und drängte Migueclass="underline" »Laß mich ihn erledigen!«

»Nein, nicht hier!« Die ganze Aktion war unglaublich schnell abgelaufen, kaum eine Minute war vergangen. Miguel stellte erstaunt fest, daß es bis jetzt noch keine Zeugen gegeben hatte. Die beiden Autos hatten ihnen Schutz vor neugierigen Blicken geboten, und Passanten waren in der kurzen Zeit noch nicht aufgetaucht. Miguel, Carlos, Rafael und Luis waren bewaffnet, und im Wagen lag eine Maschinenpistole vom Typ Beretta, für den Fall, daß sie sich den Weg freischießen mußten. Doch damit war nicht mehr zu rechnen, und das gab ihnen einen guten Vorsprung vor möglichen Verfolgern. Wenn sie aber den alten Mann, der aus seiner Kopfwunde heftig blutete, auf dem Parkplatz zurückließen, würde sofort Alarm ausgelöst werden. Kurz entschlossen befahl Migueclass="underline" »Rein mit ihm.«

Es dauerte nur Sekunden. Doch beim Einsteigen merkte Miguel, daß er sich in bezug auf mögliche Zeugen getäuscht hatte. Eine alte weißhaarige Frau stand, auf einen Stock gestützt, in etwa zwanzig Metern Entfernung zwischen zwei Autos und sah ihnen zu. Sie schien unsicher und verwirrt.

Als Luis losfuhr, sah auch Rafael die alte Frau. Mit einer schnellen Bewegung packte er die Beretta, hob sie und richtete sie durch das Rückfenster auf die Zeugin. Doch rief Migueclass="underline" »Nein!«. Die Frau war ihm gleichgültig, doch wollte er die Chance, auch jetzt noch ohne großes Aufsehen zu entkommen, nicht aufs Spiel setzen. Er schob Rafael zur Seite und rief mit fröhlicher Stimme zum Fenster hinaus: »Denken Sie sich nichts. Wir drehen nur einen Film.«

Er sah, wie sich ein erleichtertes Lächeln auf dem Gesicht der alten Frau ausbreitete. Dann lag der Parkplatz bereits hinter ihnen und wenig später auch die Stadtgrenze von Larchmont. Luis fuhr geschickt und ohne Zeit zu verlieren. Fünf Minuten später rasten sie schon über den Interstate 95, den New England Thruway, nach Süden.

12

Früher war Priscilla Rhea einer der hellsten Köpfe in Larchmont gewesen. Als Lehrerin hatte sie einigen Schülergenerationen aus der Umgebung die Grundbegriffe des Wurzelziehens und der quadratischen Gleichungen beigebracht und sie in die Geheimnisse - bei ihr klang das immer wie die Suche nach dem Heiligen Gral - des algebraischen Werts von x und y eingeführt. Sie gab ihnen aber auch ein Gefühl für Bürgerpflicht und soziale Verantwortung mit auf den Weg.

Doch das alles war vor Priscillas Pensionierung vor fünfzehn Jahren, bevor Alter und Krankheit zuerst ihrem Körper und dann ihrem Geist Tribut abverlangten. Nun war sie weißhaarig und gebrechlich, ging mühsam am Stock und hatte erst kürzlich voller Abscheu über ihren Verstand gesagt, er arbeite »mit der Geschwindigkeit eines dreibeinigen Esels, der einen Hügel hinauftrottet«.