»Wagen 423 an Revier. Mögliche Entführung auf dem Parkplatz des Grand Union. Brauche Verstärkung. Beschreibung des verdächtigen Fahrzeugs: Nissan Kleinbus, Farbe hellbraun. Zugelassen in New Jersey, Nummer unbekannt. Dunkle Fenster, vermutlich blickdichte Scheiben. Es besteht der Verdacht, daß drei Personen von den unbekannten Insassen des Nissan verschleppt wurden.«
Die Meldung des Beamten ging über Funk an alle Streifenwagen in Larchmont und in den Nachbarorten Mamaroneck Town und Mamaroneck Village. Über eine »Notfalleitung« würde der diensthabende Polizist auf dem Revier alle anderen Einheiten in Westchester County und die New York State Police alarmieren. Die New Jersey State Police wurde zu diesem Zeitpunkt noch nicht informiert.
Vor dem Supermarkt waren bereits die Sirenen von zwei heranjagenden Streifenwagen zu hören, die auf den Hilferuf reagiert hatten.
Zwanzig Minuten waren seit der Abfahrt des Kleinbusses vergangen.
Gute acht Meilen weiter weg fuhr der Nissan auf dem I-95 Thruway und näherte sich der Ausfahrt in den Straßendschungel der Bronx.
Von Larchmont aus war Luis zügig vorangekommen. Er fuhr, wie die meisten anderen auch, fünf Meilen schneller als die erlaubte Höchstgeschwindigkeit - ein gutes Reisetempo, aber doch nicht so schnell, daß die Polizei auf sie aufmerksam würde. Nun lag das erste Etappenziel, die Ausfahrt 13, vor ihnen. Luis wechselte auf die rechte Spur und verließ die Autobahn. Er und Miguel hatten sich während der Fahrt immer wieder nach etwaigen Verfolgern umgesehen. Aber es gab keine.
Dennoch trieb Miguel Luis zur Eile. »Schneller! Mach schon!« Seit der Abfahrt fragte er sich, ob es nicht ein Fehler gewesen war, die alte Frau am Leben zu lassen. Vielleicht hatte sie ihm die Geschichte mit dem Film nicht geglaubt und die Polizei alarmiert. Vielleicht waren bereits Beschreibungen von ihnen im Umlauf.
Luis stieg aufs Gas; mit hohem Tempo raste er über die holprigen Straßen der Bronx.
Baudelio hatte seit der Abfahrt immer wieder die Lebensfunktionen der beiden betäubten Gefangenen kontrolliert. Es schien alles in Ordnung zu sein. Die Wirkung des Midazolam, das er ihnen injiziert hatte, würde schätzungsweise noch eine Stunde anhalten. Falls nicht, würde er ihnen eine weitere Dosis spritzen, doch nur ungern, da dies die viel kompliziertere medizinische Aufgabe, die ihn am Ende der Fahrt erwartete, verzögern konnte.
Bei dem älteren Mann hatte er die Blutung gestoppt und die Kopfwunde verbunden. Nun kam er langsam wieder zur Besinnung, er bewegte sich und stöhnte leise. Baudelio zog eine weitere Dosis Midazolam auf eine Spritze und injizierte sie ihm, für alle Fälle. Er hatte keine Ahnung, was sie mit dem Alten machen würden. Höchstwahrscheinlich würde Miguel ihn erschießen und die Leiche verschwinden lassen; während seiner Zeit beim Medellin-Kartell hatte Baudelio so etwas schon oft gesehen. Ihn ließ das kalt. Denn die Sorge um andere Menschen war eine Empfindung, die Baudelio schon vor langer Zeit abgelegt hatte.
Rafael hatte einige braune Decken hervorgeholt, und Baudelio sah nun zu, wie er und Carlos die Frau, den Jungen und den alten Mann darin einwickelten, bis nur noch die Köpfe heraussahen. Am oberen Ende war jeweils ein Stück Decke übrig, damit man den Geiseln beim Ausladen die Gesichter bedecken konnte. Mit einem Seil verschnürte Carlos die Bündel; für einen flüchtigen Beobachter waren sie nun von gewöhnlichem Frachtgut nicht mehr zu unterscheiden.
Conner Street in der Bronx war ein heruntergekommenes, graues und deprimierendes Viertel. Luis kannte den Weg, sie waren ihn zur Probe bereits zweimal abgefahren. Bei einer Texaco Tankstelle bogen sie rechts in ein halb verlassenes Industriegebiet ein. Die am Straßenrand in großen Abständen geparkten Lastwagen sahen aus, als würden sie schon lange dort stehen. Menschen waren kaum zu sehen.
Vor der langen tür- und fensterlosen Mauer eines verlassenen Lagerhauses hielt Luis an. Im selben Augenblick fuhr ein Lastwagen, der auf der anderen Straßenseite gewartet hatte, auf den Kleinbus zu und hielt kurz vor ihm an. Es war ein weißer CMC mit der Aufschrift »Superbread« auf beiden Seiten.
Nachforschungen hätten ergeben, daß es ein Produkt mit dem Namen »Superbread« nicht gab. Der Lastwagen war eins von sechs Fahrzeugen, die Miguel, als Repräsentant einer nicht existenten Autoverleihfirma auftretend, gleich nach seiner Ankunft gekauft hatte. Der GMC war bereits gelegentlich für die Beschattung und auch für andere Zwecke benutzt worden. Rafael hatte ihn und die anderen Fahrzeuge schon mehrmals neu lackiert und die Aufschriften geändert. An diesem Vormittag saß Socorro, die einzige Frau der Truppe, am Steuer des Lasters. Sie sprang jetzt heraus, lief nach hinten und öffnete die Hecktüren.
Gleichzeitig ging auch beim Nissan die Tür auf. Rafael und Carlos sprangen heraus und trugen die verschnürten Bündel eilig zum Lastwagen. Baudelio packte seine Arzttasche zusammen und folgte ihnen.
Miguel und Luis hatten im Kleinbus zu tun. Miguel zog die dunkle Plastikfolie von den Fenstern; sie hatte ihren Zweck erfüllt und war nun ein Identifikationsmerkmal, das man verschwinden lassen mußte. Luis klaubte zwei New Yorker Nummernschilder unter dem Fahrersitz hervor, die er schon vor Beginn der Aktion dort versteckt hatte.
Nachdem er sich umgesehen hatte, um sicherzugehen, daß ihn niemand beobachtete, tauschte er die Kennzeichen aus New Jersey gegen die New Yorker aus. Es dauerte nur wenige Sekunden, weil alle Fahrzeuge der Gruppe spezielle, aufklappbare Schildhalterungen besaßen. Mit wenigen Handgriffen konnte die Klappe angehoben und die Schilder ausgewechselt werden. Ein Federmechanismus ließ die Klappe dann wieder zurückschnellen.
Bald nach seiner Ankunft in Amerika hatte Miguel sich über seine Unterweltkontakte eine Reihe von Nummernschildern aus New Jersey und New York besorgt. Dabei handelte es sich um Schilder von Autos, die zwar nicht mehr in Gebrauch waren, für die aber weiterhin Zulassungsgebühren bezahlt wurden.
Das Zulassungssystem von New York, New Jersey und den meisten anderen Staaten machte es möglich, Nummernschilder für Fahrzeuge zu erhalten, die schon längst in ihre Einzelteile zerlegt und verschrottet waren. Die Zulassungsstelle war nur an der Zulassungsgebühr und einem, ebenso leicht zu beschaffenden Versicherungsnachweis für das nicht mehr existierende Fahrzeug interessiert. Weder die Behörde noch die Versicherung, die jeden Vertrag beliebig verlängerte, solange nur die Prämie gezahlt wurde, wollten je das Fahrzeug selbst sehen.
In Kriminellenkreisen florierte das Geschäft mit solchen Nummernschildern, die zwar illegal, bei der Polizei aber nicht als solche registriert waren und deren Wert deshalb die wirklichen Kosten um ein Vielfaches übertraf.
Miguel kam mit den Plastikfolien aus dem Kleinbus und stopfte sie in eine bereits überquellende Mülltonne. Die Nummernschilder, die Luis eben entfernt hatte, folgten.
Luis setzte sich nun hinter das Steuer des Lastwagens, in dem sich bereits die bewußtlosen Geiseln Jessica, Nicholas und Angus sowie Miguel, Rafael, Baudelio und Socorro befanden. Nach einer schnellen Wende fuhr er zurück in Richtung Thruway, auf dem sie, kaum zehn Minuten, nachdem sie ihn verlassen hatten, in dem neuen Fahrzeug ihre Flucht in Richtung Süden fortsetzten.
Carlos am Steuer des leeren Nissan wendete ebenfalls. Auch er fuhr auf den I-95 zu, schlug dann aber die nördliche Richtung ein. Mit den ausgetauschten New Yorker Nummernschildern und ohne die dunkle Folie an den Fenstern sah der Bus aus wie tausend andere auch. Die Beschreibung, die die Polizei in Larchmont ausgegeben hatte, traf auf ihn jedenfalls nicht mehr zu.
Carlos hatte den Auftrag, den Nissan verschwinden zu lassen, und auch dies war sorgfältig vorbereitet. Nach drei Meilen verließ er die Autobahn und folgte der Landstraße weitere zwölf Meilen Richtung Norden bis nach White Plains. Dort fuhr er in ein öffentliches Parkhaus, ein vierstöckiges Gebäude neben einem Einkaufszentrum - die Center City Mall.
Auf der dritten Etage stellte Carlos den Nissan ab und machte sich mit scheinbarer Beiläufigkeit an die Arbeit. Supermarktkunden, die in der Nähe parkten, aus ihren Autos ausstiegen oder sie mit Waren beluden, schienen weder an ihm noch an dem Nissan im geringsten interessiert.