Es war 18 Uhr 28, zwei Minuten vor Beginn der Erstausgabe.
Während Sloane sich in den Moderatorenstuhl setzte und sich, mit dem Rücken zum Redaktionssaal, der mittleren der drei Kameras zuwandte, kümmerte sich eine Maskenbildnerin um ihn. Erst vor zehn Minuten war er in einer kleinen Garderobe neben seinem Büro geschminkt worden, aber seitdem hatte er wieder geschwitzt. Das Mädchen wischte und puderte ihm die Stirn, kämmte ihn und sprühte die Frisur mit Haarspray ein.
Mit einem Anflug von Ungeduld in der Stimme murmelte er: »Danke, Nina«, überflog seine Papiere und verglich den Text mit den Zeilen, die in großen Buchstaben auf dem Teleprompter aufleuchteten. Denn von dort las er seine Meldungen ab, während der Zuschauer den Eindruck hatte, er würde ihn direkt ansehen. Die Blätter, mit denen die Moderatoren oft spielten, waren nur eine Vorsichtsmaßnahme, falls der Teleprompter ausfiel.
»Noch eine Minute!« rief der Studiomanager.
Im Redaktionssaal richtete Ernie LaSalle sich plötzlich überrascht und gespannt auf.
Erst vor einer guten Minute hatte der Bürochef in Dallas das Gespräch mit LaSalle unterbrochen, um einen Anruf auf einer anderen Leitung entgegenzunehmen. Während LaSalle wartete, konnte er zwar die Stimme des Bürochefs hören, aber nicht verstehen, was er sagte. Doch nun meldete er sich wieder, und was er zu berichten hatte, trieb dem Inlandsredakteur ein breites Grinsen ins Gesicht. LaSalle hob das rote Haustelefon ab, das ihn, über eine Verstärker- und Lautsprecheranlage, mit der gesamten Nachrichtenmannschaft verband.
»Inlandsredaktion. LaSalle. Gute Nachrichten. Es gibt jetzt doch direkte Bilder von DFW Airport. In der Abfertigungshalle sind Partridge, Abrams und Van Canh, die dort auf ihre Anschlußflüge gewartet haben. Abrams hat sich eben im Büro in Dallas gemeldet: Sie haben die Story und bleiben dran. Und noch besser: Ein Satelliten-Übertragungswagen hat seinen ursprünglichen Einsatzort verlassen und ist auf dem Weg zum Flughafen, wo er in Kürze eintreffen wird. Ein Satellitenkanal für die Überspielung von Dallas nach New York ist gebucht. Wir erwarten Bilder noch rechtzeitig für die Erstausgabe.«
Obwohl LaSalle versucht hatte, gelassen zu klingen, konnte er die Befriedigung in seiner Stimme nicht ganz unterdrücken. Und wie als Antwort drang vom Hufeisen gedämpfter Jubel zu ihm herunter. Crawford Sloane, im Studio, drehte sich um und zeigte LaSalle fröhlich den hochgestreckten Daumen.
Ein Assistent legte LaSalle ein Papier vor, er überflog es kurz und sprach dann weiter: »Ein erster Bericht von Abrams: An Bord des havarierten Airbus sind 286 Passagiere, 11 Besatzungsmitglieder. Das zweite Flugzeug, eine private Piper Cheyenne, ist in Gainesville abgestürzt, keine Überlebenden. Am Boden gibt es weitere Opfer, Angaben über Anzahl und Schwere der Verletzungen liegen noch nicht vor. Dem Airbus wurde ein Triebwerk abgerissen, Pilot versucht, mit dem verbleibenden zu landen. Nach Angaben der Bodenkontrolle entstand das Feuer an der Stelle, wo das Triebwerk abgerissen wurde. Ende der Meldung.«
Was da in den letzten Minuten von Dallas reingekommen ist, dachte LaSalle, war total professionell. Aber das war auch nicht verwunderlich, denn Abrams, Partridge und Van Canh waren eines der Spitzenteams von CBA News. Rita Abrams, eine frühere Korrespondentin, die jetzt als leitende Field-Producerin arbeitete, war berühmt für ihre schnelle Einschätzung von Situationen und ihren Einfallsreichtum, wenn es darum ging, auch unter schwierigen Bedingungen Stories zu liefern. Harry Partridge war einer der besten Korrespondenten im Geschäft. Er war eigentlich Spezialist für Kriegsberichterstattung und hatte, wie Crawford Sloane, in Vietnam gearbeitet, aber man konnte sich darauf verlassen, daß er in jeder Situation außergewöhnliches Material lieferte. Und der Kameramann Min Van Canh, ein Vietnamese, der die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen hatte, war berühmt für seine hervorragenden Aufnahmen, die oft in den schwierigsten Situationen und ohne Rücksicht auf die eigene Sicherheit entstanden. Daß nun diese drei aus Dallas berichteten, war eine Garantie für exzellente Resultate.
Es war inzwischen eine Minute nach halb, die Erstausgabe der National Evening News hatte begonnen. Mit einem Regler neben seinem Schreibtisch drehte LaSalle die Lautstärke des von der Decke hängenden Kontrollschirms hoch und hörte, wie Crawford Sloane seine Tell-story über die Flugzeugkollision verlas. Man sah, wie eine Hand - die eines Texters - ihm ein Blatt Papier zuschob. Es war offensichtlich der zusätzliche Bericht, den LaSalle eben verlesen hatte. Sloane überflog ihn nur kurz und fügte ihn dann aus dem Stegreif in seinen vorbereiteten Text ein. So etwas konnte er ausgezeichnet.
Oben am Hufeisen hatte sich die Stimmung seit LaSalles Durchsage gebessert. Trotz des noch immer herrschenden Drucks und der Zeitnot lag ein fröhlicher Optimismus in der Luft, weil man wußte, daß Dallas in guten Händen war und Bilder sowie ein ausführlicher Bericht eintreffen würden. Chuck Insen und die anderen kauerten vor den Monitoren, sie diskutierten und trafen Entscheidungen, sie schnitten, stellten um und kürzten, um die notwendige Zeit herauszuschinden. Es sah so aus, als würde der Bericht über den korrupten Senator nun doch herausfallen. Man spürte, daß jeder das tat, was alle am besten konnten, nämlich unter Zeitdruck und in kritischen Situationen effektiv arbeiten.
Man verständigte sich in kurzen Sätzen.
»Das Bildmaterial ist zu lahm.«
»Kürzen, dann wird's griffiger.«
»Schneideraum: Raus mit >Korruption<. Aber falls wir Dallas nicht kriegen, kommt's wieder rein.«
»Die letzten fünfzehn Sekunden von dem Clip sind tödlich. Da erzählen wir den Leuten doch nur, was sie schon wissen.«
»Die Oma in Omaha bestimmt nicht.«
»Dann wird sie's auch nie erfahren. Raus damit.«
»Erster Teil abgeschlossen. Sind jetzt auf Werbung. Hängen vierzig Sekunden hinter der Zeit.«
»Was hat die Konkurrenz über Dallas gebracht?«
»Eine Tell-story, wie wir.«
»Ich brauch' 'n Aufreißer und 'ne Schlußzeile für >Drogenrazzia<, aber schnell.«
»Raus damit. Das bringt doch nichts.«
»Was wir hier machen ist ungefähr so, als wenn du 'nen erwachsenen Mann in 'nen Kinderanzug steckst.«
Ein Beobachter, der mit der Szene nicht vertraut ist, wird sich vielleicht fragen: Sind das überhaupt noch Menschen? Haben sie kein Mitgefühl? Spüren sie keine Betroffenheit, keinen Kummer? Hat einer von ihnen auch nur eine Sekunde an die fast dreihundert verängstigten Seelen in diesem Flugzeug gedacht, die den Tod vor Augen haben? Ist denn da keiner, dem das etwas ausmacht?
Und jemand, der sich im Nachrichtengewerbe auskennt, wird vielleicht antworten: Doch, hier gibt es Leute, denen es etwas ausmacht, und sie werden Mitgefühl empfinden, vielleicht sogar gleich nach der Sendung. Oder andere wird das Entsetzen überkommen, wenn sie zu Hause sind, und je nachdem, wie die Sache ausgeht, werden einige sogar weinen. Aber in diesem Augenblick hat niemand dazu Zeit. Die Leute sind Nachrichtenprofis. Und ihre Aufgabe ist es, das Geschehen zu dokumentieren, das Gute mit dem Schlechten, und es schnell und effektiv und vor allem so zu tun, daß - um es etwas altmodisch auszudrücken - »das verehrte Publikum daran Interesse finde«.
So war um 18 Uhr 40, nach den ersten zehn Minuten der halbstündigen Nachrichtensendung, für die Leute am Hufeisen und die im Redaktionssaal, im Studio und im Kontrollraum die einzig wichtige Frage: »Werden wir von DFW einen Bildbericht bekommen oder nicht?«
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Für die fünf Journalisten im Flughafen von Dallas-Fort Worth hatte die Serie der Ereignisse schon einige Stunden früher begonnen und gegen 17 Uhr 10 zentraler Sommerzeit einen ersten Höhepunkt erreicht.