Verwirrung und Entsetzen lähmten die gesamte Nachrichtenabteilung. Alle hörten auf zu arbeiten. Man sah sich gegenseitig an, auf vielen Gesichtern lag die unausgesprochene Frage: Habe ich das wirklich gehört? Und nach der Bestätigung kamen noch mehr Fragen, auf die es keine Antwort gab: Wie konnte das passieren? Wer würde denn so etwas tun? Gibt es eine Lösegeldforderung? Was wollen die Entführer? Wie stehen die Chancen, daß die Polizei sie schnell fängt? O Gott, wie wird Crawford sich jetzt fühlen?
Die Verantwortlichen am Hufeisen im Stock über dem Redaktionssaal waren ähnlich entsetzt, doch bei ihnen dauerte der Schock nur Sekunden. Danach entwickelten sie, aus Gewohnheit und aus Disziplin, hektische Aktivität.
Chuck Insen, der ranghöchste Produzent im Haus, verließ im Laufschritt sein Büro. Sein Instinkt sagte ihm, daß man den Rat der Inlandsredaktion, das Programm mit einer Sondermeldung zu unterbrechen, befolgen würde. Wenn das geschah, mußte Insen an seinem Platz im Regieraum vier Stockwerke tiefer sein. Er erreichte die Aufzüge und drückte den Abwärts-Knopf.
Während er ungeduldig auf einen Aufzug wartete, dachte er voller Mitgefühl an Sloane. Ihre Differenzen waren für den Augenblick völlig vergessen. Er fragte sich, wo Crawf steckte. Insen hatte ihn zuvor nur kurz und aus der Entfernung gesehen und wußte, daß Crawf und Les Chippingham in Sloanes Büro die Köpfe zusammensteckten und über ein Thema sprachen, das er bereits kannte. Crawf war vermutlich irgendwo im Haus und hatte sicher die Lautsprecherdurchsage gehört. Und das warf eine wichtige Frage auf.
Wenn das normale Programm für eine Sondermeldung unterbrochen wurde, dann war es immer der Moderator der Abendnachrichten - bei CBA eben Crawford Sloane -, der sie vor den Kameras verlas. War der Moderator nicht im Haus, wurde nach ihm gesucht, und in der Zwischenzeit nahm ein gerade verfügbarer Korrespondent seinen Platz ein. Aber in diesem Fall, das wußte Insen sehr wohl, konnte man von Sloane unmöglich erwarten, daß er diese so überraschende, entsetzliche Nachricht über seine Familie selbst verlas.
In diesem Augenblick öffnete sich eine Aufzugstür und der Wirtschaftskorrespondent von CBA, Don Kettering, trat heraus. Kettering, ein Mann mittleren Alters mit einem dünnen Schnurrbart, der selbst wie ein erfolgreicher Wirtschaftsmanager aussah, öffnete den Mund und wollte etwas sagen. Aber er kam nicht dazu, denn Insen schob ihn in den Aufzug zurück und drückte auf den Knopf für das erste Kellergeschoß. Die Aufzugstüren schlossen sich.
»Was zum...«, stotterte Kettering.
»Halt die Klappe«, sagte Insen. »Hast du die Lautsprecherdurchsage gehört?«
»Ja, tut mir verdammt leid. Ich wollte eben zu Crawf und ihm sagen... «
»Du gehst nirgendwohin«, entgegnete Insen, »außer auf Sendung. Lauf sofort ins Sonderstudio. Crawf kann es unmöglich machen. Und du bist verfügbar. Ich sag' dir dann vom Regieraum aus Genaueres.«
Kettering, ein heller Kopf und ein in allen Bereichen erfahrener Journalist, nickte nur. Er schien sich sogar ein wenig auf die neue Aufgabe zu freuen. »Ich brauche aber genauere Informationen.«
»Du bekommst alles, was wir haben. Du hast ein paar Minuten Zeit, um es dir durchzulesen, und dann mußt du improvisieren. Wenn was Neues reinkommt, kriegst du es sofort auf den Tisch.«
»In Ordnung.«
Während Insen den Aufzug verließ, drückte Kettering auf den Knopf, der ihn wieder nach oben ins Sendestudio brachte.
Im ganzen Haus herrschte fieberhafter Betrieb, die Nachrichtenmaschinerie lief auf Hochtouren.
Im Redaktionssaal trommelte der für den Nordosten zuständige Disponent eben zwei Kamerateams mit Korrespondenten zusammen. Sie erhielten den Auftrag, so schnell wie möglich nach Larchmont zu fahren und dort Bilder vom Tatort sowie Interviews mit Polizisten und Zeugen aufzunehmen. Ein Übertragungswagen würde in Kürze folgen.
In einem kleinen Archiv neben dem Hufeisen, einem Ableger einer größeren Bibliothek in einem anderen Gebäude, stellten einige Mitarbeiter hastig eine Biographie von Crawford Sloane und seiner Familie zusammen, doch über Jessica und Nicholas war nur wenig vorhanden, da Jessica auf ihre Privatsphäre großen Wert legte.
Das Hauptarchiv hatte dennoch eine Fotografie von Jessica aufgetrieben, die in diesem Augenblick über Telefax hereinkam. Ein Grafiker stand vor dem Gerät und wartete ungeduldig, bis er das Bild herausnehmen konnte, um es in ein Dia umzuwandeln. Ein anderer Computer druckte inzwischen die Kriegsbiographie von Angus Sloane aus. Auch von ihm gab es ein Foto. Nur von Nicky hatte man bis jetzt noch keins gefunden.
Ein Assistent packte sich das ganze verfügbare Material und lief damit hinunter zum Sonderstudio, wo Don Kettering eben erst eingetroffen war. Gleich hinter ihm kam ein Bote von der Inlandsredaktion mit einem Ausdruck von Bert Fishers Bericht aus Larchmont, den WCBA-TV herübergeschickt hatte. Kettering setzte sich an den Sprechertisch, versuchte, sich vor der Hektik im Studio zu verschließen und vertiefte sich in die Lektüre. Unterdessen trafen Techniker ein, Scheinwerfer wurden eingeschaltet. Jemand steckte Kettering ein Mikrofon ans Revers. Ein Kameramann stellte sein Objektiv auf Kettering ein.
Das Sonderstudio war das kleinste Studio im Haus, kaum größer als ein gewöhnliches Wohnzimmer. Es gab nur eine einzige Kamera, doch das Studio hatte den Vorteil, in Situationen wie dieser innerhalb weniger Minuten sendebereit zu sein.
Im abgedunkelten Regieraum, in dem inzwischen Chuck Insen Platz genommen hatte, setzte sich nun eine Aufnahmeleiterin in ihren Stuhl vor der Monitorwand. Einige der Schirme zeigten bereits Bilder, andere waren noch dunkel. Ein Assistent stellte sich mit einem aufgeschlagenen Notizbuch in der Hand rechts neben die Frau. Die Techniker nahmen ihre Plätze ein, Fragen und Befehle schwirrten hin und her.
»Achtung, Kamera eins. Mikrofoncheck.«
»Bill, das wird eine Livemeldung. Geh rein mit >Wir unterbrechen dieses Programm< und wieder raus mit >Und nun zurück zum Programm.««
»Okay. Hab' verstanden.«
»Gibt es schon ein Manuskript?«
»Nein. Don soll aus dem Stegreif sprechen.«
»Fahrt die Kontrollschirme an.«
»Kamera eins, zeig uns Kettering.«
Nun flackerten immer mehr Monitore auf, und einer davon brachte ein Bild aus dem Sonderstudio. Don Ketterings Gesicht füllte den Bildschirm.
Der Assistent der Aufnahmeleiterin telefonierte mit der Regiezentrale. »Hier Nachrichten. Wir wollen das Programm für eine Sondermeldung unterbrechen. Bitte haltet euch bereit.«
»Ist das Vorspanndia fertig?« fragte die Aufnahmeleiterin.
»Hier ist es«, kam die Antwort.
Ein weiterer Monitor leuchtete auf, große rote Buchstaben waren zu sehen:
CBA NEWS
SONDERMELDUNG
»Halt es da.« Die Aufnahmeleiterin wandte sich an Insen. »Chuck, wir sind soweit. Können wir loslegen?«
»Das versuche ich eben herauszufinden«, antwortete der Studioleiter, einen Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt. Er sprach mit Les Chippingham im Redaktionssaal, wo Crawford Sloane in diesem Augenblick um einen Aufschub bat.
Es war 11 Uhr 52.
Die entsetzliche Nachricht aus der Inlandsredaktion erreichte Crawford Sloane auf dem Weg zum Redaktionssaal, wo er Genaueres über die erste Meldung aus Larchmont in Erfahrung bringen wollte.
Bei Beginn der Durchsage horchte er auf und blieb dann entsetzt und wie betäubt stehen, denn er konnte kaum glauben, was er gehört hatte. Einen Augenblick später riß ihn eine Sekretärin aus seiner Trance, die ihn beim Verlassen seines Büros gesehen hatte und ihm nun hinterherlief. »Mr. Sloane!« rief sie. »Die Polizei von Larchmont ist am Apparat. Sie wollen dringend mit Ihnen sprechen.«