Während er hin und her ging und erklärte, schien er sich zu verwandeln; aus der gewohnten ausgemergelten, gespenstischen Erscheinung wurde wieder der Lehrer und Narkosearzt, der er einmal gewesen war. Ähnliches - ein kurzes Aufblitzen längst abgelegter Würde - war auch unmittelbar vor der Entführung passiert. Doch weder damals noch jetzt schien es ihm irgend etwas auszumachen, daß er seine Fähigkeiten zu kriminellen Zwecken mißbrauchte und die Umstände, unter denen er arbeitete, verabscheuungswürdig waren.
Er fuhr fort. »Bei Propofol muß man vorsichtig sein. Die Optimaldosierung ist bei jedem unterschiedlich, eine Überdosis kann tödlich sein. Am Anfang muß man sehr behutsam experimentieren.«
»Bist du sicher, daß du es schaffst?« fragte Miguel.
»Wenn du Zweifel hast«, erwiderte Baudelio sarkastisch, »kannst du dir ja einen anderen suchen.«
Als Miguel nicht darauf reagierte, sprach der Arzt weiter. »Da die Leute bewußtlos sind, wenn wir sie transportieren, müssen wir ganz sichergehen, daß sie nicht erbrechen und das Erbrochene einatmen. Solange wir hier sind, müssen wir ihnen deshalb jede Nahrung entziehen. Um eine Dehydrierung zu vermeiden, werde ich ihnen intravenös Flüssigkeit zuführen. Nach zwei Tagen können wir sie dann da hineinlegen.« Baudelio deutete mit dem Kopf auf die Wand hinter sich.
An der Wand lehnten zwei solide, mit Seide ausgeschlagene Särge, der eine etwas kleiner als der andere. Die verzierten Deckel waren abgenommen und lehnten daneben.
Die Särge erinnerten Baudelio an ein Problem. Auf Angus Sloane deutend, fragte er: »Soll ich ihn auch vorbereiten oder nicht?«
»Bist du medizinisch darauf eingerichtet, wenn wir ihn mitnehmen?«
»Ja. Ich habe von allem etwas in Reserve, falls etwas schiefgeht. Aber wir brauchen noch einen...« Sein Blick kehrte zu den Särgen an der Wand zurück.
»Das weiß ich selber«, entgegnete Miguel gereizt.
Er war sich noch immer unschlüssig. Vom Medellin-Kartell und vom Sendero Luminoso hatten sie lediglich den Befehl, die Frau und den Jungen zu entführen und sie so schnell wie möglich nach Peru zu bringen. Die Särge waren als Transportmittel gedacht, und man hatte auch bereits eine Deckgeschichte vorbereitet, um einer Durchsuchung durch den amerikanischen Zoll zu entgehen. In Peru würden die Geiseln dann als Druckmittel eingesetzt, um die Einlösung bis jetzt noch nicht genannter Forderungen des Sendero Luminoso zu erzwingen. Die Frage war nun, ob Angus Sloane als nützliches zusätzliches Druckmittel oder aber als Belastung und unnötiges Risiko betrachtet würde.
Wenn es möglich gewesen wäre, hätte Miguel seine Vorgesetzten um Rat gefragt. Aber der einzig sichere Kommunikationskanal war für ihn im Augenblick nicht offen, und ein Anruf über eins der Funktelefone würde eine zurückverfolgbare Spur bieten. Miguel hatte jedem einzelnen der Gruppe eingeschärft, die Telefone nur für Gespräche zwischen den Fahrzeugen und zwischen Hauptquartier und Fahrzeugen zu benutzen. Alle anderen Anrufe waren absolut verboten. Ferngespräche wurden, wenn nötig, von Telefonzellen aus geführt.
Die Entscheidung lag deshalb einzig und allein bei ihm. Er dachte wieder daran, daß man einen weiteren Sarg besorgen mußte, was ein zusätzliches Risiko darstellte. War es das wert?
Miguel beschloß, das Risiko einzugehen. Aus Erfahrung wußte er, daß man nach Bekanntgabe der Sendero-Forderungen eine der Geiseln töten und die Leiche der Weltöffentlichkeit präsentieren würde, um deutlich zu machen, daß die Entführer es ernst meinten. Wenn man Angus Sloane als ersten tötete, hätte man immer noch den Jungen oder die Frau, falls es nötig wurde, den Forderungen mit einer zweiten Leiche Nachdruck zu verleihen. In dieser Hinsicht war der zusätzliche Gefangene ein Bonus.
Miguel sagte deshalb zu Baudelio: »Ja, der alte Mann kommt mit.«
Baudelio nickte. Trotz seiner äußerlichen Gelassenheit war er an diesem Tag in Miguels Gegenwart nervös, weil er am Abend zuvor einen, wie er nun erkannte, schweren Fehler gemacht hatte, der die Sicherheit der ganzen Truppe gefährden konnte. Er war allein gewesen und hatte, in einem Augenblick abgrundtiefer Einsamkeit und Niedergeschlagenheit, eins der Funktelefone benutzt, um nach Peru zu telefonieren. Er hatte mit einer Frau gesprochen, der Gefährtin seines heruntergekommenen Lebens und seine einzige Vertraute, deren häufig betrunkene Gesellschaft er sehr vermißte.
Und wegen dieser inneren Unruhe reagierte Baudelio etwas langsam, als es plötzlich zu einer Krise kam.
Jessica hatte während des Überfalls vor dem Supermarkt in Larchmont nur wenige Minuten Zeit gehabt, um sich klarzumachen, was überhaupt geschah. Auch nachdem man sie mit einem Knebel zum Schweigen gebracht hatte, wehrte sie sich mit Händen und Füßen, denn sie sah, daß auch Nicky von den unbekannten Rohlingen gepackt und Angus brutal niedergeschlagen wurde. Augenblicke später zeigte das starke Beruhigungsmittel, das man ihr gespritzt hatte, bereits Wirkung, es wurde dunkel um sie, und sie verlor das Bewußtsein.
Doch nun wachte sie langsam wieder auf, und obwohl sie nicht wußte, wie lange sie ohnmächtig gewesen war, kehrte die Erinnerung an das Geschehene zurück. Zuerst nur schwach und dann immer deutlicher wurden ihr die Geräusche ihrer Umgebung bewußt. Sie versuchte, sich zu bewegen, etwas zu sagen, schaffte aber beides nicht. Und auch die Augen konnte sie nicht öffnen.
Es war, als liege sie am Grund eines dunklen Schachts, in dem jede Regung, jede Lebensäußerung unmöglich ist.
Ganz allmählich wurden die Stimmen klarer, die Erinnerung an die schrecklichen Momente in Larchmont deutlicher.
Schließlich öffnete sie die Augen.
Baudelio, Socorro und Miguel sahen alle in eine andere Richtung und merkten deshalb nicht, was geschah.
Jessica spürte, wie das Gefühl in ihren Körper zurückkehrte, und verstand deshalb nicht, warum sie Arme und Beine nur wenige Millimeter bewegen konnte. Dann sah sie, daß ihr linker Arm, den sie im Blickfeld hatte, mit einem Gurt gefesselt war, und erkannte, daß sie in einer Art Krankenbett lag, an dem man sie mit Armen und Beinen festgebunden hatte.
Sie drehte den Kopf ein wenig und erstarrte vor Entsetzen über das, was sie entdeckte.
Nicky lag auf einem zweiten Bett, festgebunden wie sie. Angus, neben ihm, war ebenfalls gefesselt. Und dann - o Gott, nein! - entdeckte sie die beiden offenen Särge, der eine etwas kleiner als der andere und beide offensichtlich für Nicky und sie selbst bestimmt.
Urplötzlich begann sie zu schreien und wild an ihren Fesseln zu zerren. In ihrer wahnsinnigen Angst schaffte sie es, den linken Arm loszureißen.
Die drei Verschwörer wirbelten herum, als sie den Schrei hörten. Einen Augenblick lang war Baudelio, der sofort hätte reagieren müssen, zu überrascht, um sich zu bewegen. Inzwischen hatte Jessica alle drei gesehen.
Sie riß noch immer wie rasend an ihren Fesseln und tastete verzweifelt mit der Linken nach etwas, das sie als Waffe benutzen konnte, um sich und Nicky zu beschützen. Der Tisch mit den Instrumenten stand neben ihr. Unter ihren suchenden Fingern spürte sie plötzlich etwas, das sich anfühlte wie ein Schälmesser. Es war ein Skalpell.
Baudelio hatte sich inzwischen wieder gefangen und lief zu ihr hin. Er sah, daß Jessicas Arm frei war, und versuchte, ihn mit Socorros Hilfe wieder festzubinden.
Aber Jessica war schneller. In ihrer Verzweiflung holte sie mit dem Metallgegenstand in ihrer Hand weit aus und traf zuerst Baudelios Gesicht, dann Socorros Hand. Zuerst waren nur dünne rote Linien zu sehen. Sekunden später quoll Blut hervor.
Baudelio ignorierte den Schmerz und versuchte, den wild um sich schlagenden Arm festzuhalten. Miguel stürzte hinzu, schlug Jessica brutal mit der Faust ins Gesicht und half Baudelio. Während Blut aus Baudelios Wunde auf Jessica tropfte, schafften sie es, Jessicas Arm wieder an das Bett zu fesseln.