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Miguel riß Jessica das Skalpell aus der Hand. Sie wehrte sich noch immer, doch es nützte nichts. Tränen der Wut und der Verzweiflung liefen ihr über die Wangen.

Doch noch war die Situation nicht bereinigt. Auch bei Nicky ließ die Wirkung des Betäubungsmittels nach. Die Schreie und die Erkenntnis, daß seine Mutter neben ihm lag, ließen ihn schneller zu Bewußtsein kommen. Er begann ebenfalls zu schreien und an seinen Fesseln zu zerren, doch er konnte sich nicht befreien.

Angus, der seine Spritze später als die beiden anderen bekommen hatte, rührte sich nicht.

Der Lärm und die Verwirrung waren inzwischen fast unerträglich, doch Baudelio und Socorro wußten, daß sie jetzt vor allem anderen ihre eigenen Wunden behandeln mußten. Socorro, die weniger schlimm verletzt war, klebte sich ein Pflaster auf die Hand und wandte sich Baudelio zu. Sie legte ihm einen Verband aus Gazekompressen an, doch der war in kürzester Zeit blutdurchtränkt.

Baudelio hatte inzwischen den ersten Schock überwunden; er nickte ihr dankend zu, deutete dann auf den Tisch mit seinen Instrumenten und murmelte: »Hilf mir.«

Socorro zog den Gurt an Jessicas linkem Oberarm fester. Baudelio hatte bereits eine Propofol-Injektion vorbereitet, die er ihr nun in die Vene spritzte. Jessica konnte nur entsetzt zusehen, sie schrie und kämpfte gegen die Wirkung des Mittels an, bis ihr die Augen zufielen und sie wieder ohnmächtig wurde.

Bei Nicky wiederholten die beiden den Vorgang. Auch er hörte auf zu schreien und fiel in die Kissen zurück.

Weil sie nicht riskieren wollten, daß auch der alte Mann aufwachte und Schwierigkeiten machte, gaben sie Angus ebenfalls eine Injektion.

Miguel hatte die ganze Zeit schäumend vor Wut, aber ohne etwas zu sagen, im Hintergrund gestanden. Nun schrie er Baudelio mit zornig blitzenden Augen an: »Du unfähiger Idiot! Pinche cabrön! Du hättest beinahe alles vermasselt! Weißt du überhaupt, was du tust?«

»Ja, das weiß ich«, antwortete Baudelio. Trotz der Gazekompressen lief ihm Blut über das Gesicht. »Ich habe mich verschätzt. Es wird nicht wieder vorkommen.«

Ohne etwas zu antworten, stürmte Miguel mit hochrotem Kopf aus dem Zimmer.

Sobald er verschwunden war, untersuchte Baudelio in einem Handspiegel seine Wunde. Zwei Dinge waren ihm sofort klar. Zum einen würde ihm für den Rest seines Lebens eine von der Schläfe bis zum Kinn reichende Narbe bleiben. Zum zweiten, und das war wichtiger, mußte die tiefe Wunde sofort genäht werden. Doch unter den gegebenen Umständen konnte er weder ins Krankenhaus noch zu einem Arzt gehen. Er hatte keine andere Wahl, als sich selbst zu nähen, gleichgültig, wie schwierig und wie schmerzhaft es würde. Socorro mußte ihm helfen, so gut sie eben konnte.

Zu Beginn seines Studiums hatte Baudelio wie jeder angehende Mediziner gelernt, wie man kleine Wunden näht. Später konnte er als Narkosearzt bei Hunderten solcher Operationen zusehen. Während seiner Arbeit für Medellin hatte er selbst des öfteren genäht und wußte inzwischen sehr gut, was zu tun war.

Mit zitternden Knien setzte er sich vor den Spiegel und sagte Socorro, sie solle ihm seine Arzttasche bringen. Er suchte sich medizinische Nadeln, Seidenfaden und Lidocain, ein örtliches Betäubungsmittel, heraus.

Dann erklärte er Socorro, was zu tun war. Wie gewöhnlich sagte sie außer einem gelegentlichen »Si!« oder »Esta bien!« kaum etwas. Auch Baudelio verlor nicht viele Worte, sondern begann, sich an den Rändern der Wunde Lidocain zu injizieren.

Die ganze Prozedur dauerte fast zwei Stunden, und trotz der örtlichen Betäubung war der Schmerz fast unerträglich. Einige Male hätte Baudelio beinahe das Bewußtsein verloren. Sein Hand zitterte häufig, und das machte die Stiche unregelmäßig. Erschwerend kam noch hinzu, daß er spiegelverkehrt arbeiten mußte. Socorro gab ihm, was er verlangte, und stützte ihn, wenn er kurz vor dem Zusammenbruch stand. Doch schließlich hatte er es geschafft, und obwohl einige ungeschickte Stiche die Narbe noch häßlicher machen würden, als er ursprünglich angenommen hatte, war die Wunde nun geschlossen und würde heilen.

Baudelio wußte sehr gut, daß der schwierigste Teil seines Auftrags noch vor ihm lag und daß er nun Ruhe brauchte; er nahm deshalb zweihundert Milligramm Seconal und legte sich schlafen.

3

Etwa gegen 11 Uhr 50 hatte Harry Partridge in der Wohnung in Port Credit den Fernseher auf einen Sender aus Buffalo, New York, eingeschaltet - einer Tochtergesellschaft von CBA. Da die Signale des Senders ungehindert über die nur sechzig Meilen des Lake Ontario kamen, waren sie in der Gegend um Toronto gut zu empfangen.

Vivien war ausgegangen und würde erst später zurückkehren.

Partridge hoffte, in den Mittagsnachrichten Neues über die Flugzeugkatastrophe vom Tag zuvor zu erfahren. So saß er bereits vor dem Gerät, als das gewohnte Programm um 11 Uhr 55 von der Sondermeldung unterbrochen wurde.

Er war entsetzt und schockiert wie jeder andere auch. Stimmte das wirklich, fragte er sich, oder hatte da nur jemand entsetzlichen Unsinn gemacht? Aber aus Erfahrung wußte er, daß CBA News keine Sondermeldung bringen würde, ohne vorher die Authentizität der Geschichte geprüft zu haben.

Während er Don Ketterings Gesicht auf dem Bildschirm sah und seinem Bericht zuhörte, regte sich in ihm vor allem eine tiefe Sorge um Jessica. Und dazu kam ein Gefühl der kameradschaftlichen Verbundenheit und des Mitgefühls mit Crawford Sloane.

Partridge wußte auch, ohne lange darüber nachdenken zu müssen, daß sein Urlaub, der eben erst begonnen hatte, schon wieder vorbei war. Er war deshalb auch gar nicht überrascht, als er eine Dreiviertelstunde später angerufen und gebeten wurde, in die CBA News- Zentrale nach New York zu kommen. Überraschend war nur, daß Crawford Sloane ihn höchstpersönlich darum bat.

Partridge hörte sofort, daß Sloane seine Stimme kaum unter Kontrolle halten konnte. Gleich nach der Begrüßung sagte er: »Ich brauche dich dringend, Harry. Les und Chuck stellen gerade eine Spezialeinheit zusammen. Sie wird auf zwei Ebenen vorgehen: einmal die tägliche Berichterstattung besorgen und zum anderen intensivste Ermittlungen anstellen. Sie haben mich gefragt, wen ich als Leiter der Truppe wollte. Und ich kann mir eigentlich nur einen einzigen vorstellen - dich, Harry.«

Plötzlich erkannte Partridge, daß sie sich in all den Jahren, die sie sich nun schon kannten, nie nähergestanden hatten als in diesem Augenblick. »Halt die Ohren steif, Crawf«, erwiderte er. »Ich komme mit der nächsten Maschine.«

»Danke, Harry. Hast du besondere Wünsche, was deine Mitarbeiter angeht?«

»Ja. Treibt Rita Abrams auf, ich glaube, sie ist irgendwo in Minnesota. Und Minh Van Canh ebenfalls.«

»Falls sie nicht schon auf dich warten, wenn du ankommst, dann sind sie kurz nach dir da. Sonst noch jemand?«

Partridge überlegte nur kurz und sagte dann: »Teddy Cooper aus London.«

»Cooper?« Sloane sagte der Name zunächst nichts, doch dann erinnerte er sich: »Ist das nicht der Ermittlungsspezialist aus unserer dortigen Redaktion?«

»Genau.«

Teddy Cooper war Engländer, fünfundzwanzig und Produkt einer Red Brick University, wie die Briten diese Erziehungseinrichtungen aus dem neunzehnten Jahrhundert etwas snobistisch nannten. Mit seiner fröhlichen Cockney-Art wirkte er wie eine Figur aus Me and My Girl. Was ihn in Partridges Augen aber fast zum Genie machte, war seine Fähigkeit, aus gewöhnlichen Nachforschungen akribische Detektivarbeit zu machen und sie mit höchst intelligenten Schlußfolgerungen voranzutreiben.

Während eines Einsatzes in Europa hatte Partridge Cooper kennengelernt, der zu dieser Zeit als kleiner Bibliotheksangestellter bei der BBC arbeitete. Partridge war damals sehr beeindruckt von einigen Recherchen, die Cooper für ihn angestellt hatte. Deshalb hatte er auch darauf gedrängt, daß die Londoner CBA-Redaktion ihn einstellte, und er hatte ihm so zu einer besseren Bezahlung und einer beruflichen Perspektive verholfen.