»Du kriegst ihn«, erwiderte Sloane. »Wir setzen ihn in die nächste Concorde, die England verläßt.«
»Wenn es dir nichts ausmacht«, sagte Partridge nun, »möchte ich dir ein paar Fragen stellen, damit ich auf dem Flug etwas zum Nachdenken habe. Meinst du, daß du das schaffst?«
»Natürlich. Schieß los.«
Was folgte, war mehr oder weniger eine Wiederholung der Fragen, die FBI-Agent Havelock ihm bereits gestellt hatte. Hatte es Drohungen gegeben?... Irgendwelche besonderen Feindschaften?... Ungewöhnliche Erlebnisse?... Gab es schon einen Verdacht, irgendeine wenn auch noch so vage Vermutung, wer... ? Gab es Informationen, die in der Sondermeldung nicht erwähnt wurden?
Die Fragen waren notwendig, doch die Antworten fielen immer negativ aus.
»Fällt dir noch irgend etwas ein?« Partridge bohrte beharrlich weiter. »Irgendeine Kleinigkeit, die du bis jetzt noch gar nicht beachtet hast, die aber vielleicht mit der Entführung in Verbindung stehen könnte?«
»Im Augenblick kann ich nur mit nein antworten«, entgegnete Sloane. »Aber ich werde darüber nachdenken.«
Nach dem Ende des Gesprächs nahm Partridge seine Reisevorbereitungen wieder auf. Schon vor Sloanes Anruf hatte er damit begonnen, den Koffer zu packen, den er erst eine Stunde zuvor ausgepackt hatte.
Er rief bei Air Canada an und buchte einen Platz für den Flug um 14 Uhr 45 von Pearson International Airport nach New York, wo er um 16 Uhr auf dem La Guardia Airport eintreffen würde. Anschließend bestellte er ein Taxi, das ihn in zwanzig Minuten abholen sollte.
Nachdem sein Koffer gepackt war, kritzelte er einen Abschiedsgruß für Vivien auf einen Zettel. Er wußte, daß sie über seine plötzliche Abreise enttäuscht sein würde, aber das war er auch. Zu dem Abschiedsgruß gehörte auch ein großzügiger Scheck für die besprochene Renovierung der Wohnung.
Während er sich noch in der Wohnung nach einem günstigen Platz für Zettel und Scheck umsah, klingelte es. Das bestellte Taxi war bereits da.
Das letzte, was er sah, bevor er die Wohnung verließ, waren die Karten für das Mozartkonzert auf der Anrichte. Traurig dachte er darüber nach, daß sie - wie schon so viele Karten und Einladungen in der Vergangenheit - mehr als alles andere ein Symbol waren für das unbeständige Leben eines Fernsehreporters.
Die Maschine der Air Canada war eine Boeing 727 ohne First und Business Class, die nonstop nach New York flog. Da sich nur wenige Passagiere an Bord befanden, hatte Partridge eine ganze Sitzreihe mit drei Plätzen für sich. Er hatte Sloane versprochen, sich schon auf dem Flug Gedanken über die Entführung zu machen, und wollte nun bereits die Stoßrichtung ausarbeiten, die er und das Team einschlagen sollten. Doch er hatte nur sehr spärliche Informationen, und bald wurde ihm klar, daß er damit nicht weiterkam. Also ließ er es sein und hing bei einem Wodka-Tonic seinen Gedanken nach.
Die Beziehung zwischen ihm und Jessica war es, worüber er nachdachte.
In den Jahren, die seit seinem Aufenthalt in Vietnam vergangen waren, hatte er es sich angewöhnt, Jessica als Teil seiner Vergangenheit zu betrachten, als eine Frau, die er einmal geliebt hatte, zu der er aber nun keinen Bezug mehr hatte und die er sowieso nicht mehr erreichen konnte. In gewisser Weise, so erkannte Partridge nun, war dieses Denken ein Akt der Selbstdisziplin gewesen, ein Schutz gegen das Selbstmitleid, ein Gefühl, das er verabscheute.
Aber nun, da Jessica in Gefahr war, mußte er sich eingestehen, daß seine Gefühle für sie noch immer vorhanden, noch nie verschwunden waren. Gib's doch zu, du bist immer noch verliebt in sie. Ja, das bin ich. Und nicht nur in einen Schatten der Erinnerung, sondern in eine lebende, wirklich existierende Person.
Gleichgültig, welche Rolle er in der Suche nach Jessica spielen sollte - und Crawf selbst hatte ihn gebeten, eine führende zu übernehmen -, Harry Partridge wußte, daß diese Liebe zu Jessica ihm Kraft geben und ihn vorwärtstreiben würde, obwohl er sie natürlich geheimhielt und nur in seinem Innersten brennen ließ.
Doch plötzlich, aus einer für ihn charakteristischen Laune heraus, fragte er sich: Bin ich eigentlich untreu?
Untreu wem? Der toten Gemma natürlich!
Ach, liebste Gemma! Noch an diesem Morgen, während er über seine scheinbare Unfähigkeit zu weinen nachdachte, hatte er sich beinahe von der Erinnerung an sie überwältigen lassen. Aber dann hatte er sie beiseite geschoben, es wäre einfach zuviel für ihn gewesen. Nun kam diese Erinnerung an Gemma wieder. Sie wird immer zurückkommen, dachte er.
Einige Jahre nach seinem Einsatz in Vietnam und einigen anderen gefährlichen Aufträgen schickte CBA Partridge als Korrespondenten nach Rom. Er blieb dort fast fünf Jahre.
Ein Einsatz in Rom war für jeden Fernsehkorrespondenten ein Glücksfall. Der Lebensstandard war hoch, die Lebenshaltungskosten im Vergleich zu anderen Großstädten eher niedrig, und obwohl natürlich ein gewisser Druck von New York herüberkam, war das Leben in Rom eher entspannt und locker.
Neben der Berichterstattung aus der Metropole und dem Umland gehörten auch Reportagen aus dem Vatikan zu Partridges Aufgaben. Deshalb reiste er auch des öfteren in päpstlichen Flugzeugen, im Troß der Journalisten, die Papst Johannes Paul II. auf seinen Pilgerfahrten in die ganze Welt begleiteten.
Auf einer dieser Reisen des Papstes lernte er Gemma kennen.
Partridge hatte es häufig amüsiert, wenn Außenstehende glaubten, auf päpstlichen Flugreisen übe man sich in Zurückhaltung und Anstand. Dem war nicht so. Für den hinteren Teil des Flugzeugs, wo die Presse untergebracht war, traf sogar das Gegenteil zu. Es wurde ständig gefeiert und getrunken - Getränke waren frei -, und auf langen Nachtflügen ging es bisweilen sogar recht frivol zu.
Ein Kollege von Partridge hatte das Flugzeug des Papstes einmal sehr treffend mit einem Ort verglichen, der, gleich Dantes Inferno, alle Ebenen zwischen Himmel und Hölle umfaßt. (Obwohl für die Reisen des Papstes verschiedene Flugzeuge eingesetzt wurden, war die spezielle Aufteilung des Passagierraums immer dieselbe.)
Im vorderen Teil des Flugzeugs befand sich eine geräumige Kabine für den Papst. Sie enthielt ein Bett und zwei oder drei große, bequeme Sessel.
Dahinter lag die Kabine für die unmittelbare Entourage des Papstes - Staatssekretär, Kardinäle, Leibarzt, persönlicher Sekretär und Kammerdiener. Im nächsten Abschnitt waren die Bischöfe und weniger hochgestellte Geistliche untergebracht.
Je nach Flugzeugtyp gab es irgendwo zwischen den vorderen Kabinen einen Lagerraum für die Geschenke, die der Papst während seiner Reise erhielt, und das waren nicht wenige.
Und schließlich die letzte Kabine - für die Presse. Die Sitzaufteilung entsprach hier der Touristenklasse, der Service dagegen war first class. Man wurde von allen Seiten bedient, Speisen und Weine waren exquisit. Auch für die Journalisten gab es großzügige Geschenke von der jeweiligen Fluggesellschaft, meistens Alitalia. Dort war man sich der Werbewirksamkeit solcher Nettigkeiten wohl bewußt.
Die Gruppe der Journalisten setzte sich aus Vertretern aller Medien zusammen, eine internationale Mischung aus Zeitungs-, Rundfunk- und Fernsehreportern, letztere begleitet von ihren Aufnahmeteams. Alle hatten ganz normale Interessen, der berufsbedingte Skeptizismus wurde bisweilen durch eine gewisse Ehrfurchtslosigkeit ergänzt.
Die Fernsehsender, obgleich sie das nie offen zugaben, sahen es durchweg lieber, wenn über kirchliche Ereignisse, wie die Papstreisen, von Korrespondenten berichtet wurde, die in Glaubensdingen nicht übermäßig engagiert waren. Religiöse Eiferer, gleich welcher Couleur, so fürchtete man, würden nur Unerträgliches liefern. Eine gesunde Zurückhaltung wurde bevorzugt.