Harry Harrison
Retter einer Welt
1
Schweißperlen rannen über Brions muskulösen Oberkörper und versickerten in dem knappen Lendenschurz, den er als einziges Kleidungsstück trug. Das leichte Florett in seiner Hand wog bleischwer; jede Bewegung damit schmerzte. Aber diese Dinge spielten keine Rolle. Die blutende Wunde auf seiner Brust, die vor Ermüdung tränenden Augen und selbst die tobende Menge in der riesigen Arena — das alles war unwichtig. Für ihn gab es nur eines, den federnden Stahl vor seinen Augen, der stets rechtzeitig zur Stelle war, um seine eigene Waffe zur Seite zu schlagen.
Eine plötzliche Bewegung. Er reagierte — aber sein Florett traf nur Luft. Einen Augenblick später spürte er einen leichten Stich unterhalb der linken Schulter.
»Touché!« bellte eine Stimme aus vielen Lautsprechern, und der Beifall der Zuschauer brach sich an den Rängen.
»Eine Minute«, kündigte eine andere Stimme an, bevor der Summer ertönte.
Brion hatte seinen Körper sorgfältig auf diese kurzen Unterbrechungen vorbereitet, weil er wußte, wie wichtig es war, sie völlig auszunutzen. Als der Summer ertönte, erschlafften seine angestrengten Muskeln. Nur Herz und Lungen arbeiteten gleichmäßig weiter. Brion schloß die Augen und nahm kaum wahr, daß seine Helfer ihn auffingen, als er fiel. Während sie ihn massierten und die Wunde versorgten, konzentrierte er sich auf die Aufgabe, die vor ihm lag. Aber trotzdem mußte er immer wieder an das seltsame Ereignis der vergangenen Nacht zurückdenken.
Alle Teilnehmer an den Spielen brauchten ihre ungestörte Nachtruhe, deshalb herrschte nachts in den Schlafräumen tiefste Stille. Selbstverständlich wurde diese Bestimmung in den ersten Tagen nicht immer peinlich genau eingehalten, denn die Männer waren zu aufgeregt, um leicht einschlafen zu können. Aber sobald die ersten Teilnehmer ausgeschieden waren, herrschte nach Einbruch der Dunkelheit völlige Stille. Ganz besonders aber in dieser letzten Nacht, in der nur noch zwei der winzigen Zellen belegt waren, während Tausende von anderen leer standen.
Ein ärgerlicher Wortwechsel hatte Brion aus seinem Schlaf gerissen. Die Worte wurden nur geflüstert, waren aber trotzdem klar zu verstehen, denn die beiden Männer standen unmittelbar vor Brions Tür. Einer von ihnen erwähnte seinen Namen.
»… Brion Brandd. Nein, das ist völlig ausgeschlossen. Sie können doch nicht einfach…«
»Benehmen Sie sich doch nicht wie ein Idiot!« Die andere Stimme klang befehlsgewohnt. »Ich bin wegen einer äußerst dringenden und wichtigen Angelegenheit hier. Ich muß Brandd unbedingt sehen! Los, gehen Sie aus dem Weg!«
»Die Spiele…«
»Sind mir völlig gleichgültig! Meine Sache ist wichtiger, sonst wäre ich nämlich nicht hier!«
Der andere schwieg — er war bestimmt einer der zahlreichen Funktionäre -, aber Brion spürte deutlich, daß der Mann vor Wut kochte. Er mußte seine Pistole gezogen haben, denn der Eindringling wehrte überrascht ab. »Tun Sie das Ding weg! Benehmen Sie sich nicht wie ein Narr!«
»Hinaus!« lautete die Antwort. Dann herrschte Stille, und Brion schlief sofort wieder ein.
»Zehn Sekunden.«
Die Stimme ließ Brion aus seinen Erinnerungen auffahren. Er richtete sich in eine sitzende Stellung auf und stellte dabei fest, daß er im Grunde genommen völlig erschöpft und ausgebrannt war. Der nun schon vier Wochen lang anhaltende geistige und körperliche Kampf hatte seinen Tribut gefordert. Wie konnte er noch auf den Sieg hoffen, wenn er sich kaum noch auf den Füßen zu halten vermochte?
»Wie stehen wir jetzt?« erkundigte er sich bei dem Helfer, der seine schmerzenden Beinmuskeln massierte.
»Vier zu vier. Du brauchst nur noch einen Punkt zum Sieg!«
»Ja, aber der dort drüben braucht auch nur einen«, stellte Brion fest und starrte zu dem Mann am anderen Ende der langen Matte hinüber. Niemand, der das Finale der Spiele erreicht hatte, konnte ein leichter Gegner sein, aber dieser Irolg war wirklich außergewöhnlich gut. Ein rothaariger Riese mit anscheinend unerschöpflichen Kraftreserven. Und das zählte jetzt. In dieser letzten Runde kam es nicht mehr darauf an, wer besser fechten konnte, sondern nur darauf, wer von den Kontrahenten noch die Kraft besaß, den anderen zu überwinden.
Brion schloß wieder die Augen, weil er wußte, daß der Augenblick gekommen war, vor dem er sich fürchtete, weil er ihn hatte hinausschieben wollen.
Jeder Mann, der sich zu den Spielen anmeldete, hatte bestimmte Trainingstricks. Auch Brion verfügte über einige, die sich bisher als äußerst nützlich erwiesen hatten. Er spielte nicht übermäßig gut Schach, aber trotzdem hatte er sämtliche Partien gewonnen, weil er unglaublich viele unorthodoxe Eröffnungen beherrschte. Das war kein Zufall, sondern das Ergebnis langer Arbeit. Er ließ sich ständig alte Schachlehrbücher besorgen und hatte Tausende von Partien auswendig gelernt. Das war zulässig. Alles war erlaubt, was sich ohne Benutzung von Drogen oder Maschinen durchführen ließ. Auch Selbsthypnose gehörte dazu.
Brion hatte länger als zwei Jahre gebraucht, um eine Methode zu finden, mit deren Hilfe er die letzten Reserven seines Körpers nutzbar machen konnte. In den Büchern wurde zwar beschrieben, wie Berserker selbst mit tödlichen Verwundungen weiterkämpften, wie Juramentados, aus unzähligen schweren Wunden blutend, ihre Gegner weiter bedrängten — aber in allen diesen Fällen war der Tod unausbleiblich. Aber es gab noch eine andere Methode, die sich verhältnismäßig leicht beherrschen ließ — die hypnotische Starre. Brion hatte aus beiden eine Technik der Selbsthypnose entwickelt, mit deren Hilfe er die letzten Kraftreserven seines Körpers mobilisieren konnte, um so die Energie zu gewinnen, die den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen konnte.
Aber dabei begab er sich in Lebensgefahr, denn dieser Vorgang schwächte den Körper unter Umständen so sehr, daß an eine Genesung nicht mehr zu denken war. Jetzt spielte dieser Gesichtspunkt allerdings keine Rolle mehr. Vor ihm waren schon andere während der Spiele gestorben — und der Tod in der letzten Runde war in gewisser Beziehung leichter zu ertragen als eine Niederlage.
Brion atmete tief ein und konzentrierte sich auf das Kommende. Die unendliche Müdigkeit fiel plötzlich von ihm ab, er spürte weder Hitze noch Schmerz. Als er die Augen wieder öffnete, sah er seinen Gegner klar vor sich.
Aber jede einzelne Sekunde, die so verstrich, entzog seinem Körper die Kraft, auf der seine Existenz als lebendes Wesen beruhte.
Als der Summer ertönte, riß er seinem Sekundanten das Florett aus der Hand und stürmte vorwärts. Irolg hatte kaum genügend Zeit, nach seiner eigenen Waffe zu greifen und den Angriff zu parieren. Die Körper der beiden Gegner prallten aufeinander. Irolg schien von der Wucht des Angriffs überrascht zu sein — dann lächelte er. Er hielt ihn für eine letzte Anstrengung, weil er wußte, wie erschöpft sie beide waren. Brion war jetzt bestimmt am Ende seiner Kräfte.
Sie trennten sich, und Irolg machte sich zur Verteidigung bereit. Er wollte nicht selbst angreifen, sondern erst abwarten, bis Brion sich völlig verausgabt hatte.
Brion bemerkte, daß Irolg ihn beinahe furchtsam anstarrte, als er schließlich seinen Irrtum einsah. Brion war nicht am Ende seiner Kräfte. Nein, er verstärkte seine Angriffe sogar noch und verschärfte das Tempo. Irolg war der Verzweiflung nahe — Brion spürte es deutlich und wußte, daß der fünfte Punkt ihm gehörte.
Die Bewegungen des anderen wurden immer langsamer. Dann kam der plötzliche Schwung, mit dem Irolgs Waffe beiseite gedrückt wurde. Vorwärts und unter der Deckung hindurch. Die Spitze des Floretts auf der Brust des anderen der stählerne Bogen, der über Irolgs Herz endete.
Geräusche — Klatschen und Beifallsrufe — drangen an Brions Ohren, aber er nahm sie nur undeutlich wahr. Irolg ließ seine Waffe fallen und wollte Brion die Hand schütteln, aber in diesem Augenblick gaben seine Beine nach. Der Riese sackte in sich zusammen. Brion legte ihm den Arm um die Schultern, stützte ihn und hielt ihn aufrecht, während die Helfer von beiden Seiten hinzueilten. Dann trugen sie Irolg fort, und Brion wehrte seine Männer ab, weil er allein gehen wollte.