Die Verantwortung, die jetzt auf seinen Schultern lastete, war bestimmt nicht leicht zu tragen. Zum erstenmal seit er diesen Planeten betreten hatte, fand Brion etwas Zeit zum Nachdenken. Er kannte weder diese Welt noch die Parteien, die in diesen Konflikt verwickelt waren. Hier saß er an einem Schreibtisch und leitete den Außenposten einer Organisation, von deren Vorhandensein er erst seit wenigen Wochen wußte. Die Lage schien erschreckend und aussichtslos zugleich. Sollte er nicht lieber aufgeben?
Nein. Bevor er nicht jemand gefunden hatte, der mehr von der Sache verstand, war er selbst am besten dafür geeignet. Ihjels Auffassung bestätigte ihn in seiner Meinung. Brion erinnerte sich daran, wie überzeugt sein Freund gewesen war, daß nur er den Auftrag erfolgreich zu Ende führen könne.
Als er die Entscheidung getroffen hatte, fühlte Brion sich besser. Er lehnte sich nach vorn und drückte auf den Knopf der Sprechanlage, unter dem FAUSSEL stand.
»Ja?« Selbst durch den Lautsprecher hindurch war nicht zu überhören, welcher Haß aus der Stimme des anderen sprach.
»Wer ist Lig-magte? Und ist der frühere Direktor von seinem Besuch bei ihm zurückgekommen?«
»Magte ist ein Titel, der etwa Edler oder Lord bedeutet. Ligmagte ist eine Art Anführer. Er hat ein häßliches Kastell am Stadtrand. Anscheinend ist er das Sprachrohr der übrigen Magter, die diesen irrsinnigen Krieg wollen. Die zweite Frage kann ich nicht mit ja oder nein beantworten. Direktor Mervv blieb verschwunden, aber wir fanden seinen verkohlten Schädel am nächsten Morgen vor unserer Tür. Wir wußten, daß es seiner war, weil unser Arzt eine Brücke erkannte, die er erst eine Woche zuvor eingesetzt hatte. Haben Sie das verstanden?«
Faussel stieß die letzten Worte so laut hervor, daß sie Brion in den Ohren gellten. Anscheinend waren alle dem Nervenzusammenbruch nahe, wenn dieser Mann als typisches Beispiel angesehen werden konnte. Brion unterbrach ihn rasch.
»Danke, das genügt, Faussel. Bestellen Sie dem Arzt, daß ich ihn so bald wie möglich sprechen möchte.« Er schaltete das Gerät ab und schlug den ersten Ordner auf. Als der Arzt anrief, hatte er die Berichte oberflächlich durchgelesen und konzentrierte sich bereits auf wichtige Einzelheiten. Er zog sich eine warme Jacke an und durchquerte den weitläufigen Büroraum. Die wenigen Angestellten kehrten ihm demonstrativ den Rücken zu.
Dr. Stine war Brion auf den ersten Blick sympathisch, weil er einen dichten Vollbart trug. Ein Mann, der genügend Willensstärke besaß, um sich auch in diesem Klima nicht von seinem Bart zu trennen, war jedenfalls eine willkommene Ausnahme.
»Wie geht es der neuen Patientin, Doktor?«
Stine fuhr sich durch den Bart, bevor er antwortete. »Diagnose: Hitzeschock. Prognose: Wiederherstellung ist sicher. Ihr Zustand ist gut, wenn man in Betracht zieht, daß ihr Körper viel Wasser verloren hat. Der Sonnenbrand ist ziemlich schmerzhaft, aber die Behandlung macht gute Fortschritte. Ich habe ihr eine Schlafspritze gegeben.«
»Ich möchte, daß sie möglichst morgen schon wieder auf den Beinen ist, damit sie mir helfen kann. Wäre das möglich — wenn Sie ihr eine Spritze geben?«
»Hmm. Natürlich kann ich ihr eine Spritze geben, aber die Idee gefällt mir gar nicht. Unter Umständen zeigen sich dann später unangenehme Nachwirkungen. Mit solchen Sachen ist immer ein gewisses Risiko verbunden.«
»Dieses Risiko müssen wir eben eingehen. In weniger als siebzig Stunden soll dieser Planet zerstört werden. Um diese Tragödie zu verhindern, brauchen wir wahrscheinlich jeden Mann — und jede Frau. Einverstanden?«
Der Doktor warf Brion einen nachdenklichen Blick zu. »Einverstanden!« sagte er dann nachdrücklich. »Ich empfinde es geradezu als Vergnügen, daß endlich einmal ein Mann auftaucht, der seine Pflicht auch dann noch tun will, wenn es gefährlich werden könnte. Ich bin ganz Ihrer Meinung!«
»Ausgezeichnet, dann können Sie mir gleich behilflich sein. Ich habe die Personallisten durchgesehen und festgestellt, daß Sie der einzige Wissenschaftler in dem ganzen Haufen sind.«
»Eine ganz armselige Horde von Schreiberlingen und Bürojünglingen!« stellte Dr. Stine mit Überzeugung in der Stimme fest.
»Dann muß ich mich auf Sie verlassen, wenn ich ein paar klare Auskünfte brauche«, fuhr Brion fort. »Die Aufgabe vor uns ist außergewöhnlich, deshalb erfordert sie auch eine außergewöhnliche Lösung. Was bleibt uns schon anderes übrig, wenn weder Poisson-Distributionen noch Pareto-Extrapolationen anwendbar sind?« Zu Brions Erleichterung nickte Dr. Stine an dieser Stelle zustimmend. Die beiden wissenschaftlichen Fachausdrücke — die einzigen, die Brion beherrschte — hatten also ihren Zweck erfüllt. »Je mehr ich mich mit der Sache beschäftige, desto überzeugter bin ich von der Ansicht, daß wir hier ein physisches Problem vor uns haben. Wäre es Ihrer Meinung nach möglich, daß die Selbstmordgedanken der Disaner eine Folgeerscheinung ihrer Anpassung an diesen Planeten sind?«
»Möglich? Möglich?« Dr. Stine ging aufgeregt auf und ab. »Sie haben völlig recht, diese Möglichkeit besteht durchaus! Endlich denkt einmal jemand, anstatt nur einer Maschine Zahlen einzugeben und auf das Ergebnis zu warten. Wissen Sie, wie die Disaner leben?« Brion schüttelte den Kopf. »Die Trottel hier finden ihre Lebensweise abscheulich, aber mich fasziniert sie geradezu. Diese Menschen haben es bis zu einer Symbiose mit anderen Lebensformen auf ihrem Planeten gebracht. In manchen Fällen treten sie sogar als echte Parasiten auf. Sie müssen sich immer vor Augen halten, daß jedes Lebewesen alle nur möglichen Anstrengungen unternehmen wird, um überleben zu können. Dieser Haltung gegenüber Abscheu zu verspüren, ist nur ein Zeichen für die Unreife der Menschen, die nie in ihrem Leben Hunger oder Durst gekannt haben. Die Disaner haben einfach den einzigen Ausweg ergriffen, der sich ihnen bot.«
Stine öffnete den Medikamentenschrank. »Wenn ich das Wort Durst höre, werte ich selbst durstig.« Er goß etwas Alkohol in zwei Gläser, verdünnte ihn mit Wasser und warf einige Kristalle hinein, die er einer braunen Flasche entnahm. Dann gab er Brion ein Glas. Das Zeug schmeckte gar nicht schlecht.
»Was wollten Sie damit sagen, als Sie Parasiten erwähnten, Doktor? Sind wir nicht alle Parasiten der niedrigeren Lebensformen? Wir essen doch Fleisch, Gemüse und…«
»Nein, nein — Sie haben mich falsch verstanden! Wenn ich Parasit sage, dann meine ich das Wort in seiner engsten Bedeutung. Sie müssen sich darüber im klaren sein, daß ein Biologe eigentlich keinen Unterschied zwischen Parasitentum, Symbiose, Mutualismus, Kommensalismus…«
»Halt, halt!« unterbrach ihn Brion. »Mit solchen Ausdrücken kann ich nichts anfangen. Wenn die ganze Sache sich nicht in einfacheren Worten erklären läßt, wundere ich mich nicht mehr, daß die übrigen Angestellten sich nicht dafür begeistern können.«
»Doch, sie läßt sich auch einfacher erklären«, beruhigte ihn Dr. Stine. »Alle Fachausdrücke beschreiben im Grunde genommen nur Variationen eines Grundvorgangs — zwei Lebewesen treten in eine enge Verbindung, die entweder nur einem von ihnen oder beiden nützt.«
»Und die Grenzen zwischen verschiedenen Arten dieses Zusammenlebens lassen sich nicht ohne weiteres feststellen?« warf Brion ein.
»Genau. Auf diesem Planeten ist allein das Überleben so schwierig, daß alle miteinander konkurrierenden Lebensformen ausgestorben sind. Die übrigen, die voneinander abhängig sind und miteinander zusammenarbeiten, beherrschen jetzt das Feld allein. Alle Lebewesen — mit Ausnahme der Disaner — sind eigentlich eine Mischung aus Tier und Pflanze, wie die Flechten, die man auf anderen Planeten antrifft. Die Disaner haben ein Tier, das sie Vaede nennen. Es liefert ihnen Wasser, wenn sie in der Wüste unterwegs sind. Dieses Ding bewegt sich wie ein Kriechtier fort, macht aber wie eine Pflanze von der Photosynthese Gebrauch und speichert Wasser. Wenn die Disaner daraus trinken, zapft es ihren Blutstrom an und versorgt sich so mit Nahrungsstoffen.«