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»Ich weiß«, stellte Brion trocken fest. »Wenn Sie genau hinsehen, können Sie die Narben noch erkennen. Ich sehe allmählich ein, wie die Disaner sich an das Leben hier angepaßt haben. Glauben Sie, daß diese Veränderungen sich auf die herrschende Gesellschaftsordnung ausgewirkt haben könnten?«

»Ganz bestimmt. Aber wahrscheinlich kann ich meine Behauptungen über diesen Punkt nicht eindeutig beweisen. Ihre Leute müßten Ihnen mehr darüber sagen können, denn schließlich haben sie sich die ganze Zeit über damit beschäftigt.«

Brion hatte die Berichte über dieses Thema durchgelesen, ohne allzu viel davon zu verstehen, da sie zum größten Teil aus ihm unbekannten Abkürzungen und geheimnisvollen Diagrammen bestanden. »Bitte, sprechen Sie weiter, Doktor«, drängte er deshalb. »Mit den Berichten kann ich nichts anfangen, weil sie völlig ungenügend sind. Sie sind bisher der einzige Mann, der mir auf meine Fragen vernünftige Antworten gegeben hat.«

»Schön — aber auf Ihre Verantwortung. So wie ich es sehe, existiert hier gar keine Gesellschaft im herkömmlichen Sinn, sondern nur eine Ansammlung von Einzelwesen. Jeder ist auf sich selbst gestellt. Vielleicht versagen deshalb unsere Untersuchungsmethoden, die für menschliche Gesellschaftsformen gedacht sind. Die Disaner haben eben eine andere Art von Beziehungen untereinander entwickelt.«

»Und wie steht es mit den Magter, die in Kastellen leben und für die ganzen Schwierigkeiten verantwortlich sind?«

»Für diese Leute habe ich keine Erklärung«, gab Dr. Stine offen zu. »Bis auf diesen Punkt klingen meine Theorien durchaus logisch. Aber die Magter bilden eine Ausnahme, die ich mir nicht erklären kann. Sie sind völlig anders als die übrigen Disaner. Streitlustig, blutrünstig, immer auf Eroberungen aus. Dabei sind sie keine eigentlichen Herrscher. Sie haben nur deshalb die Macht in Händen, weil kein anderer sie will. Sie vergeben Bergwerkskonzessionen an Unternehmer von anderen Planeten, weil sie die einzigen Disaner sind, die einen Eigentumsbegriff entwickelt haben. Wenn Sie herausbekommen könnten, warum die Magter so verschieden von den anderen sind, dann wären Sie der Lösung Ihres Problems wahrscheinlich bereits ein gutes Stück näher.«

Zum erstenmal seit seiner Ankunft empfand Brion einen gewissen Enthusiasmus — und das unbestimmte Gefühl, daß dieses Problem sich lösen lassen würde. Er leerte sein Glas mit einem Zug und stand auf.

»Ich hoffe, daß Sie Ihre Patientin frühzeitig aufwecken, Doktor. Ein Gespräch mit ihr müßte Sie genau so interessieren wie mich. Falls Ihre Vermutungen zutreffen, kann sie uns nämlich am ehesten eine Antwort geben. Sie ist Professor Lea Morees und kommt geradewegs von der Erde, wo sie Exobiologie und Anthropologie studiert hat.«

»Wunderbar!« meinte Dr. Stine begeistert. »Dann werde ich mich besonders gut um sie kümmern. Obwohl wir einen Atomkrieg zu erwarten haben, empfinde ich zum erstenmal einen gewissen Optimismus, seit ich auf diesem Planeten gelandet bin.«

9

Der Posten, der im Innern des G.K.B.-Gebäudes am Eingang Wache hielt, zuckte erschreckt zusammen und griff nach seiner Waffe. Dann ließ er langsam die Hand sinken, als ihm dämmerte, daß nur jemand hinter ihm geniest hatte — das allerdings laut und kräftig. Brion kam näher und wickelte sich fester in seine warme Jacke. »Ich gehe ein bißchen spazieren, bevor ich mir eine Lungenentzündung hole«, erklärte er. Der Posten salutierte verblüfft, warf einen Blick auf den Schirm des Infrarotdetektors und öffnete die Tür, nachdem er das Licht ausgeschaltet hatte. Brion schlüpfte hinaus. Hinter ihm fiel das schwere Portal krachend ins Schloß. Er seufzte zufrieden auf, als er die warme Straße betrat, und knöpfte seine Jacke auf.

Einerseits wollte er sich tatsächlich etwas umsehen — aber andererseits war dies die einzige Methode, um wieder warm zu werden. Weiter am Schreibtisch zu sitzen, war ziemlich sinnlos; die übrigen Angestellten hatten sich schon längst zurückgezogen.

Brion hatte eine halbe Stunde geschlafen und war frisch und munter aufgewacht. Er hatte sämtliche Berichte durchgelesen, bis er sie Wort für Wort auswendig konnte. Jetzt wollte er die Zeit, in der die anderen schliefen, zu einem Erkundungsgang benützen, um die größte Stadt auf Dis besser kennenzulernen.

Als er durch die dunklen Straßen ging, stellte er immer wieder fest, wie sehr sich alles von anderen menschlichen Ansiedlungen unterschied. Der Name dieser Stadt — Hovedstad — bedeutete im Grunde genommen »Hauptort«, wenn man ihn wörtlich übersetzte. Viel mehr als das war sie auch nicht. Nur die Anwesenheit der Menschen von anderen Planeten machte daraus eine Stadt. Fast alle der nun leerstehenden Gebäude trugen Firmenschilder von Bergbaugesellschaften, Handelsniederlassungen und Raumreedereien. In einigen brannte noch immer Licht, das bei Anbruch der Dunkelheit automatisch eingeschaltet wurde. Ab und zu wurde zwischen ihnen ein von Disanern errichtetes Haus sichtbar, das sich von den aus Fertigteilen bestehenden Gebäuden der fremden Gesellschaften eindeutig abhob. Brion untersuchte eines davon, das von dem Leuchtzeichen der Wega-Metalle GmbH schwach erhellt wurde.

Es bestand aus einem einzigen großen Raum, dessen Fußboden die festgestampfte Erde bildete. Fenster oder andere Lüftungsöffnungen schienen nicht vorhanden zu sein. Die Wände waren aus einer Art Gewebe konstruiert, das mit steinhartem Lehm beworfen war. Die Tür stand weit offen. Brion überlegte sich schon, den Raum zu betreten, als er merkte, daß ihm jemand folgte.

Das leise Geräusch war kaum wahrnehmbar, aber Brion hatte es doch zufällig gehört. In der Dunkelheit hinter ihm hielt sich jemand versteckt. Brion suchte an der Mauer Rückendeckung. Der Unbekannte mußte ein Disaner sein. Brion erinnerte sich plötzlich wieder an Mervvs Ermordung.

Ihjel hatte Brion auf seine Begabung hingewiesen und hatte seine empathischen Fähigkeiten systematisch trainiert. In der Dunkelheit ließen sie sich nur schwer anwenden; er durfte sich nicht völlig darauf verlassen. Spürte er wirklich eine Reaktion — oder empfand er nur den Wunsch danach? Weshalb erschien sie ihm so vertraut? Brion hatte plötzlich eine Idee.

»Ulv«, flüsterte er. »Hier ist Brion.« Er duckte sich und war auf einen Angriff vorbereitet.

»Ich weiß«, antwortete eine leise Stimme aus der Dunkelheit. »Sprich nicht weiter. Behalte die eingeschlagene Richtung bei.«

Fragen waren im Augenblick sinnlos, deshalb drehte Brion sich um und ging wortlos weiter. Die Gebäude blieben hinter ihm zurück — er befand sich wieder in der Wüste. Das konnte eine Falle sein — Brion hatte die flüsternde Stimme nicht erkannt -, aber er mußte das Risiko eingehen. Ein dunkler Schatten tauchte aus der Nacht auf, und eine heiße Hand berührte seinen Arm.

»Ich gehe voraus. Bleib dicht hinter mir.« Diesmal waren die Worte lauter, und Brion erkannte die Stimme.

Ulv wartete Brions Antwort nicht ab, sondern ging weiter. Brion folgte ihm auf den Fersen, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Sie hatten einige Dünen zu überwinden, bis sie eine steile Geröllhalde erreichten, die von tiefen Rinnen durchzogen war. Dann kletterten sie eine dieser Rinnen hinab, die sich zu einer Schlucht vertiefte. Als sie eine Biegung hinter sich gebracht hatten, sah Brion einen schwachen Lichtschein, der aus einem Loch in der Lehmwand drang.

Ulv ließ sich auf Hände und Knie nieder und verschwand in dem engen Loch. Brion folgte ihm und versuchte, das Unbehagen, das er dabei empfand, nach Möglichkeit zu unterdrücken. In dieser Lage — auf allen vieren und mit dem Kopf voran — war er äußerst verwundbar.

Der kurze Gang führte in eine wesentlich größere Höhle. Brion hatte eben erst leise Schritte gehört, als er auch schon eine Welle von Haß und Verachtung spürte, die ihm entgegenschlug. Einen Augenblick später hatte er den engen Gang hinter sich gebracht und richtete sich mit gezogener Waffe auf. Während dieser wenigen Sekunden hätte er sterben sollen. Der Disaner über ihm hatte mit einem Steinbeil zu einem vernichtenden Schlag ausgeholt, der Brion den Schädel zerschmettert hätte.