Die Magter, die Angehörigen der herrschenden Klasse auf Dis, sind das genaue Gegenteil. Kaltblütige und brutale Mörder, wie man sie sich nicht schlimmer vorstellen kann. Sie versuchten mich zu töten, ohne daß ich ihnen einen Anlaß dazu gegeben hätte. Ihre Gewohnheiten, ihre Kleidung, ihr Benehmen und ihre ganze Lebensweise — das alles unterscheidet sie von den anderen Disanern. Sie empfinden weder Liebe noch Haß noch Zorn noch Angst — überhaupt nichts. Jeder von ihnen gleicht einer Maschine in Menschengestalt, die keine Gefühle kennt.«
»Übertreiben Sie auch bestimmt nicht?« fragte Lea. »Schließlich können Sie das nicht so genau wissen. Vielleicht gehört es zur Erziehung dieser Magter, daß sie ihre Gefühle verbergen. Jeder hat sie — ob es ihm paßt oder nicht.«
»Das ist der Punkt, auf den ich hinauswill. Jeder hat sie — nur die Magter nicht. Ich kann Ihnen jetzt keine Einzelheiten erklären, sondern Ihnen nur versichern, daß sie nicht einmal im Angesicht des Todes Angst oder Haß empfinden. Das mag unglaublich klingen, ist aber die reine Wahrheit.«
Lea schüttelte verwirrt den Kopf. »Ich bin heute nicht ganz auf der Höhe«, sagte sie. »Sie müssen mich entschuldigen. Wenn diese herrschende Klasse tatsächlich ohne Gefühle auskommt, dann könnte das eine Erklärung für ihre selbstmörderische Haltung sein. Aber diese Erklärung wirft wieder neue Fragen auf. Wie sind die Magter so geworden? Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie ein Mensch ohne Gefühle auskommen kann!«
»Genau das. Ein Mensch kann es nicht. Meiner Auffassung nach sind diese Magter nicht ebenso menschlich wie die übrigen Disaner. Ich glaube, daß sie fremdartige Wesen sind — Roboter oder Androiden -, alles andere, nur keine Menschen. Ich vermute, daß sie sich getarnt haben, um unter Menschen leben zu können.«
Lea wollte schon lächeln, tat es aber dann doch nicht, als sie Brions ernsten Gesichtsausdruck wahrnahm. »Meinen Sie das wirklich ernst?« erkundigte sie sich.
»Völlig. Ich bin mir darüber im klaren, daß meine Idee reichlich verrückt klingen muß, aber das ist bisher die einzige Theorie, zu der sämtliche bekannten Tatsachen passen. Der springende Punkt dabei ist die völlige Gleichgültigkeit der Magter dem Tod gegenüber — ihrem eigenen oder einem fremden. Ist das etwa eine normale menschliche Reaktion?«
»Nein — aber ich könnte Ihnen einige mögliche Erklärungen nennen, die nicht gleich Roboter voraussetzen. Es könnte sich um eine Mutation oder ein vererbbares Leiden handeln.«
»Schön, wir brauchen uns nicht über diesen Punkt zu streiten — es gibt genügend andere. Ich finde die Lebensweise und Gewohnheiten dieser ganzen Klasse so beunruhigend. Einzelne Eigenschaften lassen sich vielleicht erklären, aber auch alle zusammen? Wie steht es mit ihrem fehlenden Gefühlsleben? Oder ihrer Bekleidung und sonstigen Geheimnistuerei? Der normale Disaner trägt eine Art Kilt, während die Magter sich von Kopf bis Fuß verhüllen. Sie leben in ihren schwarzen Türmen und erscheinen stets in Gruppen. Stirbt einer von ihnen, dann wird er verbrannt, damit niemand die Leiche untersuchen kann. Sie führen sich wie Angehörige einer fremden Rasse auf — und ich glaube, daß sie genau das sind.«
»Nehmen wir einmal an, daß diese Theorie stimmt«, sagte Lea. »Dann ergeben sich aber eine Menge Fragen. Wie sind sie hierhergekommen? Warum weiß kein Disaner davon? Warum tarnen sie sich so umständlich? Was ist aus der Wissenschaft geworden, mit deren Hilfe sie ursprünglich Dis erreichten? Warum haben sie…«
»Halt, das genügt vorerst«, unterbrach Brion sie. »Ich weiß noch nicht einmal genug, um die Antworten auf Ihre Fragen erraten zu können. Ich versuche eine Theorie zu finden, die sich mit den Tatsachen vereinbaren läßt. Und die Tatsachen stehen fest. Die Magter sind so unmenschlich, daß ich Alpträume davon bekommen könnte — wenn ich Zeit zum Schlafen hätte. Wir brauchen vor allem handfeste Beweise.«
»Dann sehen Sie zu, daß Sie welche heranschaffen«, riet Lea ihm. »Geben Sie mir ein Skalpell und einen Ihrer Freunde, der ausgestreckt auf dem Untersuchungstisch liegt, dann werde ich Ihnen sofort sagen, was er ist — oder nicht ist.« Sie drehte sich um und beugte sich wieder über das Mikroskop.
Das war die einzig mögliche Lösung dieses gordischen Knotens. Dis sollte in sechsunddreißig Stunden völlig vernichtet werden, deshalb durfte der Tod eines einzigen Mannes keine Rolle spielen. Brion mußte einen toten Magter finden, oder sich mit Gewalt einen verschaffen.
»Sehen Sie zu, daß Sie sich etwas ausruhen können«, sagte er zu Lea, bevor er das Laboratorium verließ. »Ich bezweifle, daß das Zeug unter dem Mikroskop uns zu der richtigen Antwort verhilft. Ich werde mich nach einem geeigneten größeren Untersuchungsobjekt für Sie umsehen.«
»Vielleicht bin ich doch auf der richtigen Spur«, erwiderte sie, ohne vom Okular aufzusehen. »Ich suche weiter, bis Sie zurückkommen.«
Brion ging in die Nachrichtenzentrale, die hoch oben unter dem Dach eingerichtet worden war. Der Funker vom Dienst hatte es sich in seinem Stuhl bequem gemacht, während er verschiedene Frequenzen abhörte. Er hatte die Füße auf den Tisch gelegt und kaute an einem dicken Sandwich herum, das er in der linken Hand hielt. Als Brion plötzlich den Raum betrat, sprang der Mann erschrocken auf und angelte nach seinen Schuhen, die er ausgezogen hatte.
»Bleiben Sie ruhig sitzen«, sagte Brion lächelnd. »Wenn Sie immer so hastige Bewegungen machen, werden Sie sich eines Tages an irgendeinem Kabel aufhängen. Ich möchte, daß Sie mir diese Frequenz hier einstellen.« Brion schrieb einige Zahlen auf einen Block und schob ihn dem Funker zu. Dabei handelte es sich um die Frequenz, auf der die illegalen Terroristen zu erreichen waren — die Nyjord Army.
Der Funker reichte Brion einen Handapparat. »Sie können sprechen, Sir«, murmelte er dabei und versuchte gleichzeitig die letzten Reste des Sandwichs hinunterzuschlucken.
»Hier spricht Brandd, der Direktor der G.K.B. Bitte kommen.« Er mußte diesen Anruf fast zehn Minuten lang wiederholen, bevor er eine Antwort bekam.
»Was wollen Sie?«
»Ich habe Ihnen eine wichtige Nachricht zu übermitteln — und ich möchte Sie um Ihre Unterstützung bitten. Soll ich…«
»Nein. Warten Sie dort — wir werden uns nach Anbruch der Dunkelheit mit Ihnen in Verbindung setzen.« Das Gerät verstummte.
Nur noch fünfunddreißig Stunden bis zum Ende eines Planeten — und Brion konnte nichts anderes tun, als geduldig warten.
12
Als Brion in sein Büro zurückkehrte, fand er dort zwei Papierstapel auf seinem Schreibtisch. Er setzte sich und griff danach. In diesem Augenblick fiel ihm auf, daß aus der Klimaanlage ein Strom eisigkalter Luft strömte. Irgend jemand hatte das in die Wand eingelassene Gerät mit einem starken Schutzgitter versehen. Brion stand auf, bog die Stäbe mit einem Ruck auseinander und griff nach den Drähten im Inneren des Gehäuses. Er verband einen davon mit einem anderen und sah mit Genugtuung zu, wie der Elektrokompressor rauchend und funkensprühend zum Stillstand kam.
Faussel erschien auf der Schwelle und trug einen dritten Stapel Papier unter dem Arm. Sein Gesicht zeigte einen ungläubigen Ausdruck. »Was haben Sie da?« erkundigte sich Brion.