Brion war vor Erschütterung über diese Tragödie so gelähmt, daß er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Hätte sein Gehirn seinen Körper vollständig kontrolliert, dann wäre er in diesem Augenblick gestorben, denn er besaß keinen Lebenswillen mehr. Aber sein Herz schlug unbeirrt weiter, seine Lungen sogen die rauchige Luft gleichmäßig ein und gaben sie ebenso gleichmäßig wieder von sich. Sein Körper lebte automatisch weiter.
»Was haben Sie jetzt vor?« erkundigte sich der sonst immer so gut aufgelegte Telt mit bedrückter Stimme. Brion schüttelte nur wortlos den Kopf. Was sollte er denn tun? Was gab es noch zu tun?
»Folgt mir«, erklang die gutturale Stimme eines Disaners durch das halboffene Rückfenster des Wagens. Der Sprecher war in der Menge untergetaucht, bevor Brion sich nach ihm umdrehen konnte. Aber dann erkannte er einen Eingeborenen, der langsam in einer Nebenstraße verschwand und sich dabei öfter nach ihnen umsah. Es war Ulv.
»Wenden Sie — der Mann dort drüben ist es!« Brion stieß Telt an und zeigte aufgeregt in die Richtung, in der Ulv gegangen war. »Fahren Sie langsam, damit wir kein unnötiges Aufsehen erregen.« Einen Augenblick lang empfand Brion eine schwache Hoffnung, die er nicht auszusprechen wagte. Dann verwarf er sie doch wieder — das Gebäude war ein Trümmerhaufen. Die Menschen darin waren tot. Mit dieser Tatsache mußte er sich abfinden.
»Was ist denn los?« fragte Telt. »Wer hat da eben am Fenster gesprochen?«
»Ein Disaner — der dort vorn. Er hat mir einmal in der Wüste das Leben gerettet, und ich glaube, daß er auf unserer Seite steht. Obwohl er ein Eingeborener ist, begreift er manches, was die Magter nicht verstehen wollen. Er weiß, was mit Dis geschehen wird.« Brion plapperte gedankenlos weiter, um zu verhindern, daß er sich wieder mit der vergeblichen Hoffnung beschäftigte. Es gab keine Hoffnung mehr.
Ulv ging langsam weiter, ohne sich noch ein einziges Mal nach dem Sandwagen umzusehen. Telt hielt den Abstand so groß wie möglich, obwohl dabei ständig die Gefahr bestand, daß sie den Disaner aus den Augen verloren. Sie erreichten den Teil der Stadt, in dem die Straßen von Lagerhäusern gesäumt waren. Ulv verschwand in einem davon; Leichtmetalle Handelsges. m.b.H. hieß es auf dem Firmenschild. Telt fuhr langsamer.
»Hier können wir nicht stehenbleiben«, sagte Brion. »Fahren Sie weiter bis um die nächste Straßenecke.«
Brion stieg aus dem Wagen und sah sich vorsichtig um. Weder vor ihm noch hinter ihm war ein Mensch auf der staubigen Straße zu sehen. Er ging langsam bis zur Ecke zurück und beobachtete die Straße, auf der sie gekommen waren. Heiß, still und leer.
Dann öffnete sich plötzlich lautlos die Einfahrt des Lagerhauses. Brion erkannte eine Hand, die ihn heranwinkte. Er gab Telt ein Zeichen und sprang auf den Sandwagen, der sich bereits in Bewegung gesetzt hatte.
»Durch das offene Tor — aber schnell, bevor uns jemand dabei beobachtet!« Der Wagen rumpelte über eine Rampe in das dunkle Innere des Lagerhauses. Hinter ihnen schloß sich das Tor.
»Ulv! Was ist los? Wo bist du?« rief Brion und kniff dabei die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Ein Schatten tauchte neben ihm auf.
»Ich bin hier.«
»Hast du…« Brion konnte den Satz nicht zu Ende sprechen.
»Ich habe von dem Überfall gehört. Die Magter haben alle Männer zusammengerufen, damit sie ihnen den Sprengstoff tragen konnten. Ich bin mitgegangen. Ich konnte nichts dagegen tun, hatte aber auch keine Zeit, die Bewohner des Gebäudes zu warnen.«
»Dann sind sie also alle tot?«
»Ja.« Ulv nickte. »Bis auf eine. Ich wußte, daß ich vielleicht einem Menschen das Leben retten konnte; aber ich wußte nicht, wen ich in Sicherheit bringen sollte. Deshalb suchte ich nach der Frau, die damals mit dir in der Wüste war — sie ist hier. Sie ist nur leicht verletzt.«
»Ich möchte sie sehen«, sagte Brion. Er hatte plötzlich Angst, daß Ulv sich geirrt haben könnte. Vielleicht hatte er die falsche Frau gerettet. Aber wenn es doch Lea war…
Ulv führte sie an der Laderampe vorbei. Brion ging dicht hinter ihm her und wäre am liebsten gerannt. Als er sah, daß Ulv auf die Büros am gegenüberliegenden Ende der großen Halle zuging, konnte er sich nicht länger beherrschen und eilte voraus.
Es war wirklich Lea. Sie lag bewußtlos auf einer Couch. Auf ihrer Stirn standen große Schweißperlen. Sie bewegte sich unruhig und stöhnte dabei.
»Ich habe ihr Sover gegeben und sie dann in ein Tuch eingewickelt, damit niemand merkte, was ich auf dem Rücken trug«, erklärte Ulv.
Telt war unterdessen ebenfalls herangekommen und sah durch die Tür.
»Sover ist eine Droge, die aus einer Wüstenpflanze gewonnen wird«, sagte er. »Wir haben einige Erfahrungen damit gesammelt. Ein bißchen davon wirft den stärksten Mann um, aber eine größere Dosis ist unweigerlich tödlich. Ich habe ein Gegengift dafür im Wagen; warten Sie hier, dann hole ich es gleich.« Er ging hinaus.
Brion setzte sich neben Lea und wischte ihr das Gesicht ab. Die dunklen Schatten unter ihren Augen waren fast schwarz, ihr zartes Gesicht wirkte eingefallen. Aber sie lebte noch — und nur das war im Augenblick wichtig.
Brion fühlte sich unendlich erleichtert — und beinahe glücklich, obwohl ihm der Tod der übrigen G.K.B.-Angestellten deutlich genug vor Augen stand. Er konnte wieder klar denken. Die Aufgabe war noch immer ungelöst. Lea hätte eigentlich in ein Krankenhausbett gehört, aber das war unmöglich. Er mußte sie noch einmal auf die Beine bringen, damit sie für ihn arbeiten konnte. Vielleicht fand sie jetzt die Antwort. Mit jeder Sekunde rückte das Ende dieses Planeten näher.
»So, in einer Minute ist die Dame so gut wie neu«, meinte Telt, als er den schweren Erste-Hilfe-Kasten abstellte. Er sah Ulv nach, der den Raum verließ. »Hys würde sich bestimmt für ihn interessieren. Vielleicht ließe er sich als Spion anwerben — aber dazu ist es jetzt bereits zu spät…« Er sägte eine Ampulle ab und zog den Inhalt in eine Spritze auf. »Wenn Sie ihr den Ärmel aufrollen, werde ich sie gleich wieder ins Leben zurückholen«, sagte er dabei zu Brion. Er fuhr mit einem alkoholgetränkten Wattebausch über eine Stelle an Leas Unterarm und stach die Nadel hinein.
»Wie schnell wirkt das Zeug?« erkundigte Brion sich besorgt.
»Innerhalb weniger Minuten. Sie wird bald wieder zu sich kommen.«
Ulv stand in der Tür. »Mörder!« zischte er. Das Blasrohr in seiner Hand war halb an die Lippen gehoben.
»Er ist an dem Wagen gewesen — er hat die Leiche gesehen!« rief Telt und griff nach seiner Pistole.
Brion warf sich mit erhobenen Händen zwischen die beiden Männer. »Aufhören! Keinen Mord mehr!« rief er Ulv zu. Dann drohte er Telt mit der Faust. »Wenn Sie schießen schlage ich Ihnen den Schädel ein! Ich werde die Sache auch ohne Ihre Hilfe in Ordnung bringen.« Er drehte sich wieder zu Ulv um, der sein Blasrohr noch immer nicht weiter an den Mund gehoben hatte. Das war ein gutes Zeichen — der Disaner war sich nicht sicher.
»Du hast die Leiche in dem Wagen gesehen, Ulv. Du mußt aber auch erkannt haben, daß es die Leiche eines Magter ist. Ich habe ihn selbst getötet, weil ich lieber einen, zehn oder sogar hundert Menschen umbringen würde, bevor ich zulasse, daß ein ganzer Planet vernichtet wird. Ich habe ihn in einem ehrlichen Kampf Mann gegen Mann umgebracht, damit ich die Leiche untersuchen kann. Du weißt selbst, daß die Magter äußerst seltsam sind — sie benehmen sich anders als die übrigen Disaner. Wenn ich den Grund dafür herausbekommen kann, finde ich vielleicht einen Weg, um den Krieg zu verhindern.«
Ulv war noch immer zornig, aber er ließ sein Blasrohr sinken. »Ich wünschte, ihr wäret nie gekommen. Früher, als noch keine Fremden nach Dis kamen, war alles in Ordnung. Die Magter herrschten über uns, sie verlangten Gehorsam und brachten alle um, die ihre Befehle nicht befolgten; aber sie halfen uns auch. Jetzt wollen sie einen Krieg mit euren Waffen führen, und ihr wollt dafür meine Welt zerstören. Und ich soll euch dabei helfen!«