Das Schloß gab nach, und die Tür öffnete sich einen Spalt breit. Ihjel drückte sie noch einmal zu.
»Hier ist die Idee, über die du nachdenken sollst. Warum sollten ausgerechnet nur die Menschen auf Anvhar ihre gesamte Existenz mit komplizierten Spielen zu rechtfertigen versuchen, obwohl das Universum voll kriegerischer und unterentwickelter Planeten ist?«
3
Diesmal konnte er die Tür nicht mehr zuhalten. Ihjel versuchte es nicht einmal. Er trat einen Schritt zur Seite, und zwei Männer stolperten in den Raum. Dann ging er wortlos hinaus.
»Was war hier los? Was hat er getan?« erkundigte sich der Arzt aufgeregt, als er den Raum betrat. Er warf einen besorgten Blick auf die Registriergeräte vor Brions Bett. Atmung, Körpertemperatur, Herztätigkeit, Blutdruck — alles normal. Der Patient starrte zur Decke hinauf und antwortete nicht.
Während der nächsten Stunden dachte Brion intensiv nach. Das war nicht leicht, denn er stand unter dem Einfluß zahlreicher Medikamente und Beruhigungsmittel, die seinen Kontakt mit der Wirklichkeit schwächten. Aber trotzdem kam er nicht zur Ruhe. Was hatte Ihjel nur sagen wollen? Was war das für ein Unsinn über Anvhar gewesen? Anvhar war eben so, weil — nun, es war einmal nicht anders. Das Ergebnis einer natürlichen Entwicklung. Oder etwa nicht?
Der Planet hatte eine sehr nüchterne Vergangenheit. Von Anfang an hatte es dort nichts gegeben, was das Interesse von Händlern hätte erregen können. Anvhar lag weitab von allen interstellaren Handelsrouten und besaß keine Mineralien, die einen Abbau und den Transport zu anderen Welten gelohnt hätten. Die Pelztierjagd erwies sich zwar als gewinnbringend, wurde aber mehr als Sport betrieben. Deshalb war der Planet nie regelrecht besiedelt worden, sondern immer nur von wissenschaftlichen Forschungsgruppen aufgesucht worden, die dort Beobachtungsstationen einrichteten. Im Laufe der Zeit waren aus diesen Stationen kleinere Siedlungen geworden, weil die Wissenschaftler ihre Familien nachkommen ließen. Einige der Pelztierjäger hatten sich in diesen Siedlungen niedergelassen und so die Bevölkerung vermehrt. Das waren die ersten Anfänge gewesen.
Aus dieser Zeit existierten keine zuverlässigen Berichte, so daß die ersten sechs Jahrhunderte der Geschichte von Anvhar mehr auf Vermutungen als auf Tatsachen beruhten. Zu dieser Zeit ereignete sich der Zusammenbruch der Weltenföderation, die von der Erde aus regiert worden war. Als das geschah, stellten die Wissenschaftler fest, daß sie Institutionen vertraten, die nicht mehr existierten. Die Jäger konnten ihre Pelze nicht mehr verkaufen, weil Anvhar über keine eigenen Raumschiffe verfügte. Allerdings hatte der Zusammenbruch keine unmittelbaren Auswirkungen auf Anvhar, denn der Planet war schon immer völlig autark gewesen. Als die Bewohner sich erst einmal mit dem Gedanken vertraut gemacht hatten, daß sie jetzt über einen souveränen Planeten herrschten, anstatt nur zu Besuch auf Anvhar zu sein, verlief das Leben wie gewöhnlich weiter. Nicht leicht — auf Anvhar ist das Leben auf keinen Fall leicht -, aber immerhin ohne wesentliche Veränderungen an der Oberfläche.
Die Vorstellungen und Ideale der Menschen unterlagen jedoch einem gewissen Wandel. Zahlreiche Versuche wurden unternommen, um eine stabile Gesellschaftsordnung zu schaffen. Auch darüber gab es keine zuverlässigen Berichte. Bekannt war nur, daß schließlich die Spiele ins Leben gerufen wurden.
Um die Spiele zu verstehen, muß man etwas über die ungewöhnliche Umlaufbahn wissen, die Anvhar um seine Sonne — 70 Ophiuchi — beschreibt. Dieses System enthält mehrere Planeten, die alle mehr oder weniger eine ellipsenförmige Bahn einhalten. Anvhar ist offensichtlich eine Ausnahme, wahrscheinlich der eingefangene Planet einer anderen Sonne. Das Jahr auf Anvhar dauert siebenhundertachtzig Tage, aber während siebenhundert Tagen ist der Planet so weit von seiner Sonne entfernt, daß auf ihm tiefster Winter herrscht. Der kurze Sommer, der nur achtzig Tage dauert, ist dafür ungewöhnlich heiß. Dieser verblüffende Wechsel hat in den hier auftretenden Lebensformen Veränderungen hervorgerufen, mit deren Hilfe sie die Temperaturwechsel überstehen. Fast alle Tiere halten einen Winterschlaf, die Pflanzen überleben als Samen oder Sporen. Einige pflanzenfressende Warmblüter leben auch im Winter in dem mit Schnee bedeckten tropischen Gürtel und dienen damit den Raubtieren als Nahrung. Aber trotzdem ist der Winter im Vergleich zum Sommer eine überaus friedliche Jahreszeit.
Denn im Sommer wächst und vermehrt sich alles wie rasend. Pflanzen wachsen so schnell, daß man ihr Wachstum mit bloßem Auge verfolgen kann. Die Schneefelder schmelzen, und innerhalb weniger Tage erheben sich dort Dschungel hoch in die Luft. Alles wächst, schwillt, gedeiht, vermehrt sich. Pflanzen verdrängen andere Pflanzen von ihrem Platz unter den lebenspendenden Sonnenstrahlen. In diesem kurzen Sommer spielt sich alles Leben ab, denn wenn der Winter wieder hereinbricht, müssen neunzig Prozent des Jahres vergehen, bevor die Sonne dieses Planeten abermals genügend Wärme ausstrahlt.
Auch die Menschen müssen sich anpassen, wenn sie überleben wollen. Nahrungsmittel müssen gesammelt und gelagert werden — in solchen Mengen, daß sie über die Kälteperiode hinaus reichen. Generation auf Generation hat sich an diesen Zustand gewöhnt, bis die Menschen schließlich den Sommer als normal empfanden. Sowie sich die ersten Anzeichen des beinahe nicht vorhandenen Frühlings bemerkbar machen, tritt auch bei den Menschen eine tiefgreifende Veränderung ein. Das subkutan abgelagerte Fett verschwindet, und bisher nicht oder nur selten gebrauchte Schweißdrüsen nehmen ihre Tätigkeit auf. Andere Veränderungen sind nicht so offensichtlich, aber trotzdem kaum weniger bedeutend. Das Schlafzentrum des Gehirns wird teilweise lahmgelegt. Ein längerer Schlaf in Abständen von drei oder vier Tagen genügt plötzlich. Das Leben dieser Menschen wird hektischer und paßt sich der veränderten Umwelt an. Wenn dann der erste Frost kommt, ist die Getreideernte eingebracht, sind riesige Fleischvorräte tiefgefroren und alle möglichen Gemüsearten konserviert. Durch diese Anpassungsfähigkeit sichern die Menschen ihre Existenz während der langen Winter.
Die physische Existenz ist gesichert. Aber wie steht es mit der geistigen? Primitive Eskimos versinken für längere Zeit in einen halb bewußtlosen Zustand. Auch zivilisierte Menschen wären dazu fähig, aber nicht über längere Zeiträume hinweg. Ganz bestimmt nicht in einem Winter, der fast zwei Erdenjahre dauert. Nachdem alle körperlichen Bedürfnisse befriedigt waren, wurde die Langeweile zum größten Feind aller Anvharianer, die nicht gerade Pelztierjäger waren. Aber selbst die Jäger konnten nicht den ganzen Winter allein in der Wildnis verbringen. Alkohol war eine Antwort auf dieses Problem, Gewalttätigkeit eine andere. Die Menschen gewöhnten sich allmählich daran, daß sie während der kalten Jahreszeit von Säufern und Mördern terrorisiert wurden.
Erst die Spiele setzten dem ein Ende. Als sie Bestandteil des täglichen Lebens wurden, spielte der Sommer nur noch die Rolle einer Zwangspause zwischen den Spielen. Die Spiele waren mehr als nur ein Wettbewerb — sie erfüllten sämtliche körperlichen und geistigen Bedürfnisse der Bewohner dieses ungewöhnlichen Planeten. Sie waren ein Zehnkampf — oder vielmehr ein Zwanzigkampf — in höchster Potenz, in dem Schach und Sonetteschreiben ebenso bewertet wurden wie Skispringen und Bogenschießen. Alljährlich wurden zwei getrennte Wettkämpfe veranstaltet, einer für Männer, der andere für Frauen. Diese Trennung beruhte nicht auf veralteten Vorurteilen, sondern war das logische Ergebnis offenbarer Tatsachen. Angeborene Unterschiede zwischen den Geschlechtern machten einen fairen Wettstreit unmöglich — zum Beispiel hätte eine Frau nie das große Schachturnier gewinnen können -, und dieser Tatsache wurde Rechnung getragen. Jeder Mann und jede Frau konnte sich zu den Spielen anmelden und Jahr für Jahr daran teilnehmen.