»Wir könnten uns noch lange darüber unterhalten«, fuhr Ihjel fort, »aber du würdest nie auf die richtige Spur kommen, wenn ich…« Er brach mitten im Satz ab und starrte zu dem Fernsehschirm hinüber. Eine grüne Lampe leuchtete auf und zeigte an, daß das Gerät sich in Betrieb befand, obwohl der Schirm dunkel geblieben war. Ihjel griff nach dem Kabel, das erst vor kurzer Zeit ersetzt worden war, und riß es aus der Wand. »Dein Onkel Doktor ist ziemlich neugierig«, stellte er fest. »Die Wahrheit über die Spiele geht ihn nichts an. Wohl aber dich! Du mußt allmählich einsehen, daß du ein Leben führst, das von Soziologen geplant und durchgesetzt wurde.«
»Unsinn!« warf Brion ein. »Man kann doch nicht einfach ein Gesellschaftssystem erfinden und es dann den Leuten aufzwingen. Jedenfalls nicht, ohne auf entschiedenen Widerstand zu stoßen und Blutvergießen hervorzurufen.«
»Selbst Unsinn«, erwiderte Ihjel. »In früheren Zeiten mag das so gewesen sein, aber heutzutage ist alles anders. Du hast zu viele Geschichtsbücher gelesen, deshalb glaubst du, wir befänden uns noch immer im finstersten Mittelalter. Weil Faschismus und Kommunismus den Menschen aufgezwungen werden mußten, bist du davon überzeugt, das müsse immer so sein. Du mußt deine Bücher genauer lesen. Dann wirst du ohne Zweifel feststellen, daß zur selben Zeit in Indien die Demokratie eingeführt wurde, ohne daß es zu größeren Kämpfen gekommen wäre. Die Menschheit lebt von dem ständigen Wechsel, der ihr neue Dinge beschert, die nach einiger Zeit allgemein anerkannt werden. Und eine dieser neuen Erfindungen ist der Versuch, die bestehenden Gesellschaftsordnungen so zu verändern, daß sie den Menschen nützlicher sind.«
»Der Götterkomplex«, stellte Brion fest. »Die Menschen werden in eine Lebensform gezwängt — ob es ihnen paßt oder nicht, interessiert dabei niemand.«
»Das kann unter Umständen der Fall sein«, stimmte Ihjel zu. »Zu Anfang scheiterten einige Versuche, weil die Menschen sich an eine Ordnung gewöhnen sollten, die nicht für ihre Bedürfnisse und Wünsche geschaffen war. Aber nicht alle Experimente dieser Art schlugen fehl — Anvhar ist das beste Beispiel dafür, wie erfolgreich diese Methode sein kann, wenn sie richtig angewendet wird. Allerdings ist diese Art unterdessen überholt, denn wir haben Mittel und Wege entdeckt, die zu dem gleichen Ziel führen. Wir versuchen fremde Kulturen nicht mehr auf ein bestimmtes Ziel hinzuführen, weil wir nicht immer entscheiden können, welche Ziele sich am besten eignen. Statt dessen bemühen wir uns, bestehende Entwicklungen gegen äußere Einflüsse abzuschirmen und stagnierenden Kulturen neue Impulse zu geben. Als damals Anvhar an der Reihe war, befand sich die Methode erst im Entwicklungsstadium. Die ziemlich komplizierte Bestimmung der Eigenschaften, nach denen eine Kultur in eine der Klassen zwischen I und V eingeteilt wird, war damals noch nicht anwendungsreif. Früher entwickelte man einfach eine Gesellschaftsordnung, die höchstwahrscheinlich den Bedürfnissen des jeweiligen Planeten entsprach, und brachte die Menschen dazu, daß sie sich daran hielten.«
»Wie läßt sich das durchführen?« erkundigte sich Brion.
»Du machst allmählich Fortschritte — du fragst schon ›wie‹. Die hier angewandte Methode erforderte eine große Anzahl von Mitarbeitern und einen beträchtlichen finanziellen Aufwand. Zunächst wurde das Ehrgefühl der Menschen so sehr bestärkt, daß die Duelle zunahmen, wodurch das allgemeine Interesse an jeder Art von Selbstverteidigung stieg. Dann tauchte plötzlich Giroldi auf, der den Menschen zeigte, daß organisierte Wettkämpfe zufälligen Begegnungen vorzuziehen waren. Alle übrigen Disziplinen der Spiele waren nicht so leicht einzuführen, aber auch dieses Hindernis wurde nach einiger Zeit überwunden. Einzelheiten brauchen uns nicht zu interessieren; wir beschäftigen uns nur mit dem Endprodukt. Und das bist du. Wir brauchen dich, sehr sogar.«
»Warum ausgerechnet mich?« fragte Brion. »Weil ich die Spiele gewonnen habe? Das kann ich nicht glauben. Objektiv gesehen besteht nur ein äußerst geringer Unterschied zwischen mir und den nächsten zehn nach mir. Warum wendet ihr euch nicht an einen von ihnen? Die anderen wären der Aufgabe ebenso gut gewachsen.«
»Nein, das wären sie nicht. Ich werde dir später erklären, warum ich nur dich gebrauchen kann. Aber wir haben nicht mehr sehr viel Zeit, deshalb muß ich dich so bald wie möglich überzeugen.« Ihjel warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Nicht mehr ganz drei Stunden. In dieser Zeit muß ich dir genügend von unserer Arbeit erklärt haben, daß du in der Lage bist, dich dafür zu entscheiden, ob du freiwillig für uns tätig sein willst.«
»Ein ehrgeiziges Vorhaben«, meinte Brion. »Du könntest mir vor allem zuerst erklären, wer oder was hinter diesem ›wir‹ steht, das du ständig benützt.«
»Die Gesellschaft für kulturelle Beziehungen. Eine private Organisation, die sich das Ziel gesetzt hat, für das Wohl unabhängiger Planeten zu sorgen, damit alle friedlich miteinander leben und Handel treiben können.«
»Klingt wie ein Zitat«, stellte Brion fest. »Kein Mensch kann einen Satz dieser Art ohne längeres Nachdenken von sich geben.«
»Ich habe zitiert — aus der Satzung der Gesellschaft. Das klingt alles ganz schön und gut, aber im Augenblick befassen wir uns mit speziellen Problemen. Mit dir. Du bist das Erzeugnis einer straff organisierten und sehr fortgeschrittenen Gesellschaft. Deine Erziehung war von Anfang an nicht schlecht, aber dadurch, daß du an den Spielen teilgenommen hast, ist sie notwendigerweise erstklassig geworden. Du hättest dein ganzes Leben vergeudet, wenn du dich jetzt mit deinen Kenntnissen auf eine Farm zurückziehen würdest.«
»Halt, nicht so voreilig! Ich wollte…«
»Du mußt Anvhar einfach vergessen!« unterbrach ihn Ihjel. »Dieser nette kleine Planet kann recht gut ohne deine geschätzte Anwesenheit auskommen. Du darfst nicht mehr an Anvhar denken, sondern solltest dich eher mit den Millionen von Menschen beschäftigen, die elend dahinvegetieren. Du mußt dir Gedanken darüber machen, wie du ihnen helfen kannst.«
»Aber was kann ich für sie tun — als einzelner Mensch? Die Zeiten sind längst vergangen, in denen ein Mann wie Alexander oder Cäsar allein die Welt verändern konnte.«
»Wahr — und doch nicht wahr«, sagte Ihjel. »Schließlich wird es immer Fälle geben, in denen ein einziger Mensch eine Reaktion auslösen kann — wie ein Katalysator, der einen chemischen Prozeß in Gang bringt oder zumindest beschleunigt. Du könntest einer dieser Menschen sein, aber ich will dir ganz ehrlich sagen, daß ich vorläufig noch nicht beurteilen kann, wie groß deine Erfolgsaussichten in dieser Richtung sind. Deshalb werde ich mich darauf beschränken, an dein Verantwortungsbewußtsein zu appellieren.«
»Wem gegenüber sollte ich dieses Verantwortungsbewußtsein empfinden?«
»Der Menschheit gegenüber — den Milliarden von Menschen vor dir, die alles das geschaffen haben, was das Leben dir heute bietet. Was sie dir gegeben haben, mußt du an andere weitergeben.«
»Einverstanden. Dein Argument klingt durchaus einleuchtend, aber trotzdem ist es nicht gut genug, um mich innerhalb der nächsten drei Stunden aus dem Bett zu bringen.«
»Gar nicht schlecht«, meinte Ihjel zufrieden. »Du findest meine Auffassung wenigstens nicht völlig unsinnig. Jetzt müssen wir sie nur noch auf dich anwenden. Ich werde dir folgende Behauptung zu beweisen versuchen: Es gibt einen Planeten mit einer Bevölkerung von sieben Millionen. Dieser Planet wird in absehbarer Zeit völlig zerstört werden, falls ich es nicht verhindern kann. Das ist meine Aufgabe, deshalb bin ich auf dem Weg dorthin. Ich kann den Auftrag aber nicht allein durchführen, deshalb bin ich auf dich angewiesen. Nur auf dich — nicht auf einen anderen, der dir ähnlich ist.«
»Du hast nur noch sehr wenig Zeit, um mir alles das zu beweisen«, sagte Brion, »deshalb möchte ich dir deine Aufgabe etwas erleichtern. Deine Arbeit, dieser Planet, die Menschen in Gefahr — das alles sind Tatsachen, die du ohne Zweifel belegen kannst. Ich riskiere einfach, daß du mir einen Bären aufgebunden hast, und nehme an, daß du mir alles hättest beweisen können, wenn du mehr Zeit gehabt hättest. Damit wären wir wieder am Ausgangspunkt angelangt. Wie willst du mich davon überzeugen, daß ich der einzige Mensch in der gesamten Galaxis bin, der dir helfen kann?«