Frank Herbert
Revolte gegen die Unsterblichen
1
Heute früh setzen sie bestimmt wieder Regen aufs Programm, dachte Dr. Thei Svengaard. Bei Regen fühlen sich die Eltern immer so unbehaglich, ganz zu schweigen davon, wie er den Ärzten zusetzt.
Winterlicher Regen klatschte an das Fenster hinter seinem Schreibtisch. Er stand auf, um den Dämpfer am Fenster einzuschalten, aber die Durants, die für diesen Morgen bestellten Eltern, könnten an einem solchen Tag von einer unnatürlichen Stille noch mehr beunruhigt werden.
Dr. Svengaard trat ans Fenster und sah hinunter in das Gewühl der Fußgänger; die Tagesschicht eilte zur Arbeit in der Hauptstadt, die Nachtschicht strebte übermüdet der Ruhe entgegen. Sie führten das Leben von Höhlenbewohnern; und trotzdem lag über ihrem Kommen und Gehen ein Hauch machtvoller Bewegung. Er wußte, die meisten von ihnen waren Sterries — Legionen von Unfruchtbaren.
Das Sprechgerät zum Empfangsraum war eingeschaltet, und so hörte er, wie seine Assistentin, Mrs. Washington, die Durants mit Fragen und Formblättern quälte.
Routine …
Das war die Parole. Alles mußte wie normale Routine erscheinen. Die Durants und alle die anderen, die das Glück hatten, ausgewählt worden zu sein und Eltern zu werden, durften die Wahrheit niemals auch nur ahnen.
Dr. Svengaard schob diese Gedanken beiseite und erinnerte sich daran, daß einem Angehörigen des Arztberufes keine Schuldgefühle erlaubt waren. Schuldbewußtsein führte unweigerlich zu Verrat — und Verrat hatte unangenehme Folgen. Die Regenten waren außerordentlich empfindlich in allem, was das Programm der Aufzucht betraf.
Solch ein Gedanke mit einer Andeutung von Kritik erfüllte Svengaard sofort mit Unruhe. Er schluckte und lenkte seine Gedanken auf die Einstellung des Volkes den Regenten gegenüber. Sie sind die Macht, die uns liebt und für uns sorgt.
Mit einem Seufzer wandte er sich vom Fenster ab, ging um den Schreibtisch herum und durch die Tür, die vom Wartezimmer in das Labor führte. Im Spiegel prüfte er seine Erscheinung: graues Haar, dunkelbraune Augen, ein kräftiges Kinn, eine hohe Stirn und ziemlich strenge Lippen unter einer Hakennase. Schon immer war er ziemlich stolz gewesen auf die Andeutung von Würde in seiner Erscheinung, und er hatte sich darauf festgelegt, ihr auch Ausdruck zu verleihen. Nun setzte er eine Miene freundlicher Anteilnahme auf.
Mrs. Washington bat die Durants ins Labor, als Dr. Svengaard durch seine Privattür hereinkam. Auf die Dachfenster trommelte der Regen. Dieses Wetter schien plötzlich genau zu diesem Raum zu passen: Glas, Stahl, Plasmeld und Kacheln … alles unpersönlich.
Dr. Svengaard mochte diese Eltern nicht — vom ersten Augenblick an. Harvey Durant war ein beweglicher, großer Mann mit blondem Lockenhaar und hellblauen Augen. Das Gesicht sprach von Unschuld und Jugend. Lizbeth, seine Frau, war nahezu von gleicher Größe, ebenso blond, blauäugig und jung, mit der Gestalt einer Walküre. Um den Hals trug sie an einer Silberkette einen der allgegenwärtigen Volkstalismane, die Messingfigur der Regentin Calapine. Der Zuchtkultunsinn und der religiöse Hintergrund dieses Figürchens entgingen Dr. Svengaard nicht, und er unterdrückte nur mühsam eine geringschätzige Bemerkung.
Aber die Durants waren Eltern und robust — lebendes Zeugnis der Tüchtigkeit jenes Chirurgen, der sie geformt hatte. Stolz erfüllte Svengaard auf seinen Beruf. Nicht vielen gelang es, in die kleine Gruppe der Grundzelleningenieure aufgenommen zu werden, welche die menschliche Vielfalt in Grenzen hielten.
Mrs. Washington blieb hinter den Durants unter der Tür stehen. »Dr. Svengaard«, sagte sie, »das sind Harvey und Lizbeth Durant.« Dann verschwand sie. Sie war von außergewöhnlichem Taktgefühl.
»Die Durants, ach wie nett«, sagte Dr. Svengaard. »Ich hoffe, meine Assistentin hat Sie mit diesen Fragen und Formularen nicht allzusehr gelangweilt. Es ist aber anzunehmen, daß Sie genau wußten, worauf Sie sich einließen, als Sie sich entschlossen, zusehen zu wollen.«
»Das verstehen wir«, antwortete Harvey Durant. Zusehen wollen, dachte er. Glaubt denn dieser alte Schwindler, uns mit seinen Tricks kommen zu können?
Dr. Svengaard entging der volle Klang von Durants Stimme nicht. Der störte ihn und trug zu seiner Abneigung bei.
»Wir möchten Ihre Zeit nicht länger als unbedingt nötig beanspruchen«, bemerkte Lizbeth Durant. Sie griff nach der Hand ihres Gatten und signalisierte ihm mit dem geheimen Spiel ihrer Finger: Kannst du seine Gedanken lesen? Er mag uns nicht.
Er ist ein Sterrie-Snob, antworteten Harveys Finger, und so stolz auf seine Stellung, daß er fast blind ist.
Der vernünftige Ton der Frau irritierte Dr. Svengaard. Sie sah sich mit raschen, suchenden Blicken im Labor um. Ich muß sie unter Kontrolle halten, dachte er, ging auf sie zu und schüttelte ihnen die Hände; sie waren feucht vor Schweiß.
Gut, dachte Svengaard, sie sind nervös.
Das Geräusch einer Entwicklungspumpe zu seiner Linken war tröstlich laut; man konnte damit rechnen, daß sie die Eltern nervös machte. Deshalb waren die Pumpen ja auch so laut. Dr. Svengaard wandte sich um und deutete auf einen geschlossenen Behälter aus Kristallglas, der fast in der Mitte des Labors über einem Kraftfeld stand. Aus diesem Behälter kam das Pumpgeräusch.
»Da wären wir also«, sagte Dr. Svengaard.
Lizbeth besah sich die milchig-durchsichtige Oberfläche des Behälters; ihre Zunge befeuchtete die Lippen. »Da drinnen?«
»Und so sicher wie nur möglich«, antwortete Svengaard. Er hoffte, die Durants möchten nun endlich gehen und das Ergebnis abwarten.
Harvey nahm die Hand seiner Frau und tätschelte sie. Auch er starrte in den Behälter. »Wir haben gehört, daß Sie diesen Spezialisten zugezogen haben«, sagte er.
»Dr. Potter«, antwortete Svengaard. »Von der Zentrale.« Er beobachtete das nervöse Spiel der Hände der Durants, die tätowierten Zeigefinger — Kennzeichen der Erbmasse und der Brutstation. Nun konnten sie das ›L‹ für ›lebensfähig‹ hinzufügen, und dieser Gedanke ließ Eifersucht in ihm aufkeimen.
»Ja, Dr. Potter«, bestätigte Harvey. Hast du gehört, wie er ›Zentrale‹ sagte? fragten seine Finger.
Wie könnte ich das überhören? antworteten die ihren.
Die Zentrale, dachte sie, jener Ort mit den Zauberbildern der Regenten; zugleich fielen ihr die Cyborgs ein, die geheimen Gegenspieler der Regenten, und diese Gedanken erfüllten sie mit Unruhe. Sie war jetzt nicht imstande, an etwas anderes zu denken als an ihren Sohn.
»Wir wissen, daß Potter der beste ist, den es gibt«, sagte sie. »Sie dürfen nicht glauben, daß wir nur aus Gefühlen und Angst bestehen.«
»Aber wir werden zusehen«, warf Harvey ein. Dieser steifnackige Chirurg sollte sich besser klarmachen, daß wir unsere Rechte kennen, dachte er.
»Ich verstehe«, antwortete Dr. Svengaard und dachte: verdammte Narren! Seine Stimme klang beruhigend gleichmütig: »Ihre Sorgen sind ganz natürlich. Ich bewundere Sie. Aber die Konsequenzen…«
Er ließ die Worte im Raum hängen, um ihnen ins Gedächtnis zu rufen, daß auch er Rechte hatte und daß er die Formung auch ohne Erlaubnis der Eltern durchführen konnte.
Harvey nickte rasch. Seine Hand umschloß mit festem Griff die seiner Frau. Gedanken an Schauergeschichten und offizielle Mythen huschten durch sein Gehirn. Er sah Svengaard teils durch den Schleier dieser Geschichten, teils durch den einer verbotenen Literatur, die von Cyborgs dem Untergrund der Eltern zugespielt wurde, wie Stedman und Merck, Shakespeare und Huxley.
Lizbeths Nicken folgte später. Sie wußte, worum es hier ging, aber schließlich war es noch immer ihr Sohn, der sich dort im Bruttank befand.
»Sind Sie auch sicher«, fragte sie und reizte damit absichtlich Dr. Svengaard, »daß keine Schmerzen damit verbunden sind?«