»Wer hätte das gedacht?«, sagte er und lächelte. »Und ich dachte, Sianim missbilligt die Sklaverei.«
Plötzlich hatte Rialla das Gefühl, große Teile des Gesprächs verpasst zu haben, und sie rang nach Worten. »Mein Meister hat ihnen erzählt, dass ich seine Dienerin bin, und sie haben es vorgezogen, ihm zu glauben.« Es war die Erklärung, die sie und Laeth sich für den Fall der Fälle zurechtgelegt hatten, doch nun klang sie fadenscheinig in ihren Ohren.
Er schüttelte den Kopf, dann zuckte er die Achseln. »Spielt wahrscheinlich keine Rolle, wie deine wahre Geschichte auch immer lautet. Ich heiße Tris. Falls du mich mal brauchst, kann dir jeder in Tallonwald sagen, wo du mich findest.« Mit dieser seltsamen Botschaft blies er die Kerze aus und verließ die Kammer.
Rialla sah ihm nach wie ein Schaf. Heiler, so nahm sie an, waren wohl alle ein bisschen überspannt, aber dieser hier wollte es mit der Exzentrik offenbar bis zum Äußersten treiben.
Vorsichtig öffnete sie die Tür und spähte hinaus in die Halle. Als niemand zu sehen war, stieg sie die Stufen zu den Gemächern hinauf, die sie mit Laeth teilte.
Es war schon spät, als Laeth endlich in seine Räume zurückkehrte. Er war blass und wirkte bestürzt angesichts des Mordversuchs an seinem Bruder.
Schweigend half ihm Rialla dabei, die unpraktische enge Jacke seiner Abendgarderobe abzulegen, hängte sie auf und bot ihm, ebenfalls schweigend, ein Glas warmen Branntweins an. Dann setzte sie sich auf einen der wackligen Tische, ignorierte den ganzen Nippes, der überall darauf stand, und wartete darauf, dass er das Wort ergriff.
Gerade als er Mund öffnen wollte, wurde die Stille von einem ungeduldigen Klopfen an der Tür unterbrochen. Rialla ließ sich vom Tisch heruntergleiten und stellte sich diskret und ganz »folgsame Sklavin« neben der Wand auf – nicht dass die Frau, die nun eintrat, nachdem Laeth geöffnet hatte, auch nur das geringste Interesse an Rialla zeigte.
»Laeth, du musst die Feste sofort verlassen! Sie glauben, dass du versucht hast, Karsten zu ermorden. Man behauptet, dass du am meisten von seinem Tode profitierst.« Marri war eine darranische Dame durch und durch. Sie erinnerte Rialla an einen wütenden Schmetterling: wunderschön und nutzlos.
Laeth sah Marri an, und nicht einmal Rialla konnte in seinem Gesicht lesen, dann schüttelte er langsam den Kopf: »Es gibt so viele Menschen, die einen Nutzen aus Karstens Tod ziehen würden, Lady. Zuallererst steht da doch das Vorhaben im Raum, Darran mit einem gar grässlichen Land zu vereinen. Dann steht für die Bergleute im Osten zu befürchten, dass Karsten gewisse Minen an Reth zurückgeben könnte. Auch die Sklaventreiber sind besorgt, dass er ihnen ihre Lebensgrundlage entzieht. Vorausgesetzt also, man sah Euch nicht mein Zimmer betreten, kann doch niemand ernsthaft behaupten, ich hätte ein gewichtigeres Motiv, meinen Bruder umzubringen, als jeder andere auch.«
Fassungslos schüttelte Marri den Kopf; ihre Augen funkelten vor Zorn. »Verdammt, Laeth. Komm mir jetzt nicht mit diesem Aristokratengetue. Das passt nicht zu dir. Niemand hat mich herkommen sehen.«
Laeth verbeugte sich leicht und sagte höflich: »Entschuldigt bitte, meine Dame. Fühlt Euch bitte nicht genötigt zu bleiben, wenn mein Aristokratengetue Euch beleidigt haben sollte.«
Marri schloss die Augen und holte tief Luft. Weiß malten sich ihre edlen Wangenknochen unter der dunklen Haut ab. »Würdest du mir jetzt bitte mal zuhören, du störrischer Esel?«
Rialla unterdrückte ein Grinsen und dachte, dass sie Marri trotz allem mögen könnte.
»Glaubst du«, fuhr sie mit schneidender Stimme fort, »ich hätte riskiert hierherzukommen, wenn keine wirkliche Gefahr für dich bestehen würde? Stell dich nicht dümmer als nötig. Es gibt hier jemanden, der ganz bewusst dafür sorgt, dass man sich auf dich als Karstens Mörder kapriziert. Es kann gar nicht anders sein, betrachtet man das außerordentlich starke Misstrauen dir gegenüber.«
Marris Stimme wurde weicher. »Karsten weiß, dass ihm jemand nach dem Leben trachtet, und wir haben jede erdenkliche Vorsichtsmaßnahme gegen einen möglichen Anschlag ergriffen. Du wirst hier nicht gebraucht. Er mag vielleicht glauben, dass du wegen seines Geburtstags gekommen bist, aber ich weiß es besser. Nichts Geringeres als der Angriff auf sein Leben im letzten Monat hätte dich dazu bewegen können, nach Westholdt zurückzukehren.«
Laeth hob die Augenbrauen und ließ sich zurück auf die Bettkante sinken. Dort zog er sich einen Stiefel aus. »Jede erdenkliche Vorsichtsmaßnahme? Das hat ihm heute Abend aber nicht viel genützt, oder?«
»Du aber auch nicht!«, erwiderte sie hitzig.
Rialla bemerkte einen feuchten Schimmer in ihren Augen.
»Ich könnte es nicht ertragen, mich um euch beide sorgen zu müssen!«
»Tränen, Marri?«, fragte Laeth bissig.
»Ja, verdammt sollst du sein.« Rasch rieb sie sich die Augen. »Es tut mir leid, was passiert ist. Aber es war nicht allein mein Fehler. Du hast mich ein ganzes Jahr lang sitzen lassen, ohne mir mitzuteilen, wie ich dich erreichen kann. Meine Eltern waren verschuldet, und es bestand die Gefahr, dass sie das Herrenhaus verlieren, da machte mir dein Bruder den Antrag. Ich habe einen kleinen Bruder und drei jüngere Schwestern. Glaubst du, es wäre besser gewesen, sie dem Elend zu überlassen, wo ich es doch verhindern konnte? Hätte ich meiner Familie denn sagen sollen, ich kann Karsten nicht heiraten, weil sein Bruder mir mal schöne Augen gemacht hat?«
Während sie gesprochen hatte, schien Laeths distanzierte Art von ihm abgefallen zu sein. Stattdessen ballte er die Hände zu Fäusten und starrte zu Boden. Als er das Wort ergriff, war es kaum mehr als ein Flüstern: »Es war mehr, als dass ich dir nur schöne Augen gemacht hätte, Marri.«
Ihre Wut verrauchte abrupt; plötzlich war nur mehr Traurigkeit in ihrem Blick. »Ich weiß, aber wie hätte ich das meinem Vater erklären sollen? Und ehrlich gesagt, war ich mir deiner zum Schluss wirklich nicht mehr sicher. Als du gingst, hast du mir nicht gesagt, wohin oder warum.«
»Du wusstest, dass ich eines Tages zu dir zurückkehren würde.«
»Wusste ich das?«, fragte sie und seufzte. »Ja, ich glaube, das tat ich, aber du hast es mir eben nie gesagt.«
Sie durchschritt den Raum, ignorierte dabei Rialla vollkommen. Nach einer Weile fuhr sie fort: »Mir liegt wirklich viel an ihm, weißt du? Und die Chance, dass er überlebt, bis die Prinzessin König Myr ehelicht, sind sehr gering. Er hat es mir erklärt, als spräche er zu einem kleinen Kind, tätschelte mir sodann den Kopf und meinte, dass du nach seinem Tod schon für mich sorgen würdest.« Sie neigte den Kopf und umschlang sich selbst. »Bei den Göttern«, seufzte sie niedergeschlagen.
Das war zu viel für Laeth. Ohne seinen Schild der Kälte konnte er ihr Leiden nicht mehr länger ertragen. Er sprang vom Bett auf – er trug noch immer einen seiner Stiefel –, kam auf Marri zu und nahm sie fest in seine Arme. »Mir wird nichts geschehen, und ich werde alles daransetzen, dass auch Karsten nichts geschieht. Damit wirst du dich zufriedengeben müssen.«
Laeth liebkoste sie, legte dann sein Kinn auf ihren Kopf und starrte mit leerem Blick die Wand an. Marri lehnte sich für einen Moment an ihn, dann flüsterte sie: »Ich sollte nun gehen, bevor meine Kammerjungfer anfängt, sich Sorgen zu machen. Sie ist mir sehr verbunden, aber man sollte sein Schicksal nicht herausfordern.«
Laeth ließ zu, dass sie sich von ihm zurückzog »Es tut mir leid, Marri«, sagte er. »Es tut mir leid, dass ich nicht mit deinem Vater gesprochen habe, und, dass du dir Sorgen gemacht hast.« Er lächelte sie schwach an, dann senkte er die Stimme. »Es tut mir sogar leid, dass ich ein störrischer Esel bin. Karsten ist ein guter Mann, selbst wenn er mein Bruder ist.«
Er nahm formvollendet ihren Arm und geleitete sie zur Tür. »Danke, dass Ihr mich gewarnt habt, Lady. Ich werde es nicht vergessen. Falls Ihr herausfindet, wer das Gerücht in die Welt gesetzt hat, dass ich meinem Bruder nach dem Leben trachte, würde ich seinen Namen gern erfahren – doch schickt mir einen Diener mit der Nachricht.«