»Verdammt, Rialla, das wird ja immer schlimmer. Du bist Marri damit eindeutig zu nahe getreten!« Er stand auf, und sie sah, wie sich im Zorn seine Armmuskeln anspannten. Ihr Herzschlag beschleunigte, als er auf sie zukam.
Sie konnte zurückschlagen oder sich wegducken. Letzteres wäre gewiss klüger, doch dann wäre sie tatsächlich nichts weiter als die Sklavin, deren Verkleidung sie derzeit trug.
»Ihr Darraner und euer übertriebener Sinn für Anstand«, sagte sie ruhig und nicht ohne Bitterkeit in der Stimme. Er hielt inne. »Ich kenne die Regeln, nach denen ihr euer Leben ausrichtet. Nehmen wir nur den feinen und absolut tadellosen Lord Jarroh, deines Bruders bester Freund und treuester Verbündeter. Er kam oft in das kleine Etablissement, in dem ich tanzte, weißt du? Verschüttete nie einen Tropfen des einzigen Glases Wein, das er sich dort für gewöhnlich genehmigte. Man hat sich auch unter dem Einfluss von Alkohol stets im Griff zu haben, so heißt es doch. Der Kellner bekam immer ein angemessenes Trinkgeld von ihm. Dann ging er nach oben aufs Zimmer und schlug das kleine Sklavenmädchen, das er sich dort hielt. Manchmal nahm er dazu eine Peitsche, manchmal seine Fäuste. Verkrüppelt, wie mein Talent schon damals war, reichte es doch aus, jedes Mal die unsagbare Pein zu spüren, die sie durchlitt.« Sie lächelte Laeth freudlos an. »Diese Sklavin hat nur zwölf Sommer erlebt, bevor sie starb.«
Sie sah, dass Laeths Zorn verflogen war, aber nun, da sie so richtig in Fahrt war, konnte sie einfach nicht mehr aufhören. »Der Sklavenerzieher, der auch mein Häscher war, hat mit mir noch dreiundzwanzig andere aus meinem Clan gefangengenommen. Zwanzig von ihnen hat er bis aufs Blut gequält und ermordet. Ich habe jeden dieser Tode mit durchlebt. Und aufgrund dieser Ereignisse kann ich meine Gabe nicht mehr so kontrollieren wie zuvor. Ich höre, was ich höre.« Sie hob die Augenbrauen und fügte spöttisch hinzu. »Es tut mir also leid, wenn dadurch dein darranisches Anstandsgefühl verletzt worden ist.«
Laeths Blick war ausdruckslos. Nach einer Weile berührte er ihre Wange mit seiner Hand. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie weinte und vor ihm zurückgewichen war, obwohl sie dies unter keinen Umständen hatte tun wollen. Hart drückte der Türrahmen ihr in den Rücken.
»Entschuldige«, sagte er leise. »Ich wollte dir keine Angst machen.« Er ging zurück zum Bett und legte sich wieder darauf, schloss die Augen. Mit derselben weichen Stimme fragte er: »Was hatte denn der Wachmann draußen in den Fluren zu suchen, wo er doch die Burgmauern bewachen soll?«
»Manchmal, wenn ich körperlichen Kontakt zu einer Person aufnehme, kann ich einige ihrer verstreuten Gedanken aufschnappen. Ich denke, jemand hat ihn dafür bezahlt, in die Feste zu kommen, aber ich konnte nicht mehr herausfinden, wen zu beobachten er beauftragt wurde. Es könnte sich um dich handeln, oder um Marri, oder um jeden anderen der fünfzehn Menschen, die in diesem Flügel untergebracht sind.«
»Falls er auf Marri angesetzt worden ist«, fuhr sie fort, »dann ist er ihr wahrscheinlich schon von ihrem Zimmer aus hierher gefolgt. In diesem Fall wüsste er, dass sie in deinem Gemach verschwunden ist. Wenn er deinetwegen im Flur patrouilliert hat, dann hat er sie vielleicht gar nicht in diesem Teil der Feste gesehen. Und falls er wegen einer gänzlich anderen Person hier herumgeschnüffelt hat, müssen wir uns vermutlich keine allzu großen Sorgen machen.«
»Gut, du konntest also nicht mehr feststellen, nach wem er gesucht hat. Hast du vielleicht rausgefunden, wer ihn bezahlt hat?« Laeth sprach immer noch überaus freundlich, weshalb sie wusste, dass ihre Miene noch nicht halb so ausdrucksleer war, wie sie es sich wünschte. Sie riss sich noch ein bisschen mehr zusammen.
»Nein«, erwiderte sie. Das Metall des Türknaufs war kalt an ihrer Hand. »Aber ich spürte, dass es jemand sein muss, vor dem der Wachmann keine Furcht empfand, und es heute nicht das erste Mal war, dass ihm ein solcher Auftrag erteilt wurde. Der Mann hatte keinerlei Bedenken, seinen Posten zu verlassen, also ist er von einer Person geschickt worden, die einiges an Autorität besitzt, sodass er wegen seines unerlaubten Ausflugs keine Konsequenzen zu fürchten hat. Dein Bruder kann es nicht gewesen sein, denn der hätte den Wachmann ja gar nicht dafür bezahlen müssen. Ich denke, du wirst am besten wissen, wer als Auftraggeber in Frage kommt.«
»Lord Jarroh?«, fragte Laeth zweifelnd.
Rialla riss die Augen auf und schüttelte den Kopf. »Nein. Das gesamte Personal hat eine Scheißangst vor ihm, und ich denke, die Wachleute bilden da keine Ausnahme. Außerdem ist dergleichen nicht seine Art. Er würde niemals eine Person zum Spionieren abstellen, so was schickt sich einfach nicht für einen Edelmann …«
»Die einzige andere Person außer Lord Jarroh, meinem Bruder und mir, welche die Bestrafung eines Wachmanns aufgrund von Pflichtverletzung verhindern könnte, wäre mein Onkel, Lord Winterseine. Aber der ist ja noch nicht mal hier eingetroffen.«
»Was ist mit dem Aufseher?«, fragte Rialla.
Laeth schüttelte den Kopf. »Drams Anweisungen würden nicht in Frage gestellt. Er müsste ebenfalls keinen der Männer dafür bezahlen, durch die Feste zu patrouillieren, anstatt an der Mauer Dienst zu tun. Davon abgesehen fürchten die Wachleute ihn.«
Rialla überlegte einen Moment, dann sagte sie: »Lord Winterseines Diener Tamas war übrigens heute Abend hier.«
Laeth nickte. »Ich weiß. Hab ihn im Bankettsaal gesehen und mich deswegen danach erkundigt. Er traf mit dem Gepäck meines Onkels ein, wie er es immer tut. War er es, dem du nach dem Anschlag auf meinen Bruder nachgegangen bist? Hatte mich schon gefragt, wo du bleibst. Vermutlich hat er meinem Onkel unverzüglich davon berichten wollen, dass Karsten vergiftet worden ist.«
»Hätte er nicht eine der Wachen bestechen können, damit diese in seinem Auftrag jemanden auf Westholdt beobachtet?«, fragte Rialla.
»Ja, das wäre möglich«, sagte Laeth. »Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass mein Onkel so etwas Ungehöriges einfädelt. In solchen Dingen ist er sogar noch ehrenhafter als Karsten.«
»Kann es vielleicht sein, dass der Wachmann geschickt wurde, um jemanden zu beschützen?«, warf Rialla nun in den Raum. »Wie auch immer, ich glaube nicht, dass es uns weiterbringt, wenn wir die ganze Nacht über diesem Problem grübeln. Ich denke, ich werde heute in den Sklavenquartieren schlafen. Manchmal schnappt man dort was Nützliches auf.«
Bevor Laeth etwas einwenden konnte, war sie durch die Tür nach draußen geschlüpft und eins geworden mit den Schatten in den dunklen Gängen der Feste.
Die Sklavenquartiere befanden sich im Untergeschoss der Feste, gleich neben dem Weinkeller. Rialla nahm an, dass man die Sklaven hier untergebracht hatte, um nicht kostbaren Platz auf den oberen Etagen dafür zu opfern und gleichzeitig kurze Wege zu den jeweiligen Besitzern zu garantieren. Was immer der Grund für die Ortswahl gewesen sein mochte, das Ergebnis war, dass die Sklavenquartiere behaglicher waren als die gesamte restliche Feste. Im Winter zog es unter der Erde nicht durch irgendwelche Ritzen, und im Sommer herrschte hier eine angenehme Kühle, während es oben in der Burg wie im Backofen war. Insofern war die einzige Decke, die am Fuß jeder Bettstatt lag, mehr als ausreichend.
In Darran wurden Sklaven hauptsächlich für das persönliche Vergnügen und weniger für die harte Arbeit gehalten, daher waren die meisten von ihnen weiblich. Die wenigen männlichen Sklaven arbeiteten in Freudenhäusern, wodurch ihren wohlhabenden Besitzern das gesellschaftliche Stigma gleichgeschlechtlicher Vorlieben erspart blieb. Die Frauen von Darran besaßen keine Sklaven. Nachdem für eine Trennung der Geschlechter also wenig Anlass bestand, war die Sklavenunterkunft von Westholdt nicht mehr als ein einziges großes Gewölbe.
Rialla erwartete nicht wirklich, hier unten etwas Brauchbares herauszufinden, aber sie konnte auch nicht entspannen oder schlafen. Vielleicht lag es an ihrer Gabe oder einfach an ihrem Instinkt, aber sie hielt inne, bevor sie den Schlafsaal betrat.