Nach diesem Auftritt würde allen klar sein, dass Laeth die Allianz zwischen Reth und Darran missbilligte; insofern mochte er in der Folge vielleicht von denen ins Vertrauen gezogen werden, die das Bündnis mit allen Mitteln zu verhindern suchten. Möglicherweise wurde er sogar von jemandem angesprochen, der ihm gegenüber etwas über etwaige Attentatspläne verriet – von jemandem, der nicht sein Onkel war. Rialla indes bezweifelte dies.
Bleich, wenngleich gelassen, saß Lord Karsten am Kopf der Tafel, und Rialla nahm an, dass seine Blässe eher von der kürzlich überstandenen Vergiftung als von den Eskapaden seines vorlauten Bruders herrührte. Es war Marri, die sich nun erhob und vorschlug, dass sich alle ins Musikzimmer begeben sollten, um der Abendvorstellung beizuwohnen. Terran und Lord Karsten schafften es, Laeth dazu zu überreden, wieder vom Tisch herunterzukommen. Karsten befüllte einige Krüge mit einem Gebräu, von dem ein eilig herbeigerufener Diener annehmen musste, dass es Laeth wieder nüchtern machen sollte.
Laeth seinerseits gestattete sich und den anderen eine Skandalpause und erschien, nachdem er auch den letzten Krug mit dem Trunk geleert hatte, fast schon wieder normal, wenn auch schläfrig. Behutsam führte man ihn ins Musikzimmer und setzte ihn irgendwo im Hintergrund auf einen Stuhl. Terran blieb an seiner Seite, um sicherzustellen, dass er nicht wieder aus der Rolle fiel.
Das Musikzimmer war eigentlich ein kleines Auditorium, und Rialla fühlte ein wenig Panik in sich aufsteigen, als sie sich fragte, wie dreihundert Leute hier Platz finden sollten. Doch dann begriff sie, dass die Amateurdarbietungen des heutigen Abends wohl nicht als Höhepunkt der Feierlichkeiten angesehen wurden, denn obwohl der Saal nicht sonderlich groß war, gab es immer noch viele freie Sitze.
Und als der erste Künstler die Bühne betreten hatte, wusste sie auch, warum.
Zwei Stunden später döste Rialla behaglich vor sich hin. Wodurch ihre gemarterten Sinne für eine Weile dem Anfängertroubadour entfliehen konnten, der auf einer schlecht gestimmten Lyra vor sich hin klimperte. Keine der bisherigen Darbietungen war auch nur ansatzweise herausragend gewesen. Marri besaß eine akzeptable Altstimme, doch Riallas Lieblingskünstlerin war eine Frau mittleren Alters, deren dramatische Wiedergabe eines klassischen Monologs dadurch gekrönt wurde, dass mit einem Mal ihr viel zu enges Kleid aufplatzte.
Laeth, der bis zu diesem Moment sehr überzeugend seinen Rausch auszuschlafen schien, setzte sich abrupt auf, rieb sich die Augen und starrte mit trübem Blick auf die Bühne. Als ihm klar wurde, dass niemand mehr darauf stand, erhob er sich und bedeutete Rialla, ihm zu folgen.
Rialla konnte ihr Blut in den Ohren rauschen hören, und das Adrenalin straffte ihre Muskeln. Sie hatte fast vergessen, wie sehr sie es liebte, aufzutreten. Bevor ihr der Sklavenstatus alle Freude daran genommen hatte. Doch nun präsentierte sie ihre Kunst, weil sie es so wollte.
Im Privatetablissement in Kentar hatte es immer einen Trommler gegeben, der ihre Darbietung begleitete, doch hier musste sie zu ihrer eigenen Musik tanzen. Laeth blieb mit ihr am Fuß der Treppe stehen und bedeutete ihr, sich auf die Bühne zu begeben. Sie legte ihr schwarzes Cape ab und nahm eine betont passive Haltung an, bis das Publikum verstummte. Es brauchte einige Zeit, bis die Menschen im Auditorium verstanden, worauf Rialla wartete. Endlich ebbten auch die letzten Gespräche ab.
Mit einer dezenten Fußbewegung prüfte sie die Akustik im Raum, und tatsächlich hallte das Klingeln der Glöckchen klar und lieblich wider. Sie hatte die heutige Präsentation mit Bedacht ausgewählt, da die meisten Tänze, die sie einstudiert hatte, für eine öffentlichen Darbietung ungeeignet waren. Es war ein Tanz mit unbestimmter Botschaft, den sie von einer der älteren Tänzerinnen in Kentar gelernt hatte; die Geschichte eines jungen Mädchens, das sich in der Nacht im Wald verirrt hatte und schließlich von einem Gestaltwandler getötet wurde.
Rialla wurde auf der Bühne zu diesem Mädchen, konzentrierte sich ganz auf den süßen Refrain der Glöckchen. Ihre Gesten waren nur angedeutet, wirkten verstohlen, als sie sich aus dem elterlichen Haus schlich, dann anmutig und beschwingt, als sie durch den Wald lief, um ihren Liebsten zu treffen.
Er war nicht am gewohnten Treffpunkt, doch das beunruhigte sie nicht, und sie tanzte für die Nacht und den Mond, nur begleitet vom rhythmischen Klang der Glöckchen, die sie trug.
Inmitten eines kraftvollen Sprungs vernahm sie ein Geräusch. Nach der Landung blieb sie am Boden, schaute sich angstvoll um. Sollte ihr Liebster nicht jeden Moment hier eintreffen? Ihre Furcht wechselte zu freudiger Erregung, als sie eifrig nach ihm suchte. Doch er war nicht da.
Achselzuckend gab sie sich wieder ihrem Tanz hin. Ihre Bewegungen waren geschmeidig, ihr Körper biegsam wie eine Gerte. Sie wirkte schon ein wenig erschöpft, als sie ein weiteres Geräusch vernahm. Dieses Mal war es ihr Liebhaber, dessen Erscheinen sie mithilfe eines geschickt herumgewirbelten schwarzen Umhangs darstellte. Sie tanzten gemeinsam – ausgelassen und leidenschaftlich, bis sie etwas auf seiner Kleidung bemerkte: einen klebrigen Fleck, der sich auf ihre Hand abfärbte.
Sie sah zu ihm auf, fragend, und plötzlich stand an der Stelle ihres Geliebten eine riesige wilde Bestie. Sie wirbelte herum, rannte, aber die Kreatur holte sie ein, riss sie zu Boden und schlug sie nieder. Es folgte ein verzweifelter, doch aussichtsloser Kampf, und dann trat Stille ein.
Rialla lag mit dem Gesicht nach unten auf dem kalten Holzboden und keuchte, lauschte auf die atemlose Stille im Saal, die ein ebensolcher Triumph war wie der nachfolgende Applaus.
Laeth stolperte die Stufen zur Bühne hinauf und half ihr mit übertriebener Fürsorge vom Boden auf. Er grinste und winkte den Zuschauern zu, schaffte eine akzeptable Verbeugung, und Rialla musste sich sehr zusammenreißen, um nicht in Lachen auszubrechen. Dann zog er sie von der Bühne und durch einen Seitenausgang aus dem Auditorium heraus.
In der Sicherheit ihrer Gemächer entledigte sich Laeth seines alkoholgetränkten Hemdes, während sich Rialla am Wasserkrug das Gesicht erfrischte.
»Wie hast du das mit dem Umhang hingekriegt? Ich meine die Szene, in welcher er hoch in die Luft flog und dann zu Boden schwebte.« Laeths Stimme war gedämpft, weil er sich gerade ein sauberes Hemd über den Kopf zog. »Hattest du Gewichte daran befestigt?«
»Ja, aber man braucht trotzdem eine Menge Übung, damit er genau in die gewünschte Richtung flattert.« Rialla durchwühlte ihre Tasche und zog eine frische Tunika hervor. Damit verzog sie sich ins Umkleidezimmer, um endlich das Tanzkostüm abzulegen. Die Baumwolltunika fühlte sich federleicht an auf ihrem Körper; sie war länger als die üblichen Sklavengewänder, reichte bis weiter über das Knie.
Barfuß kehrte sie ins Schlafgemach zurück und warf das Kostüm neben ihre Reisetasche. Die Glöckchen bimmelten protestierend angesichts der unsanften Behandlung, doch sie ignorierte es und fummelte stattdessen an den Riemen ihrer Tasche herum. »Hättest du mit deiner Trunkenbold-Nummer nicht ein bisschen früher anfangen können? Wir haben nur noch einen Tag, bis wir wieder nach Sianim aufbrechen.« Nachdem das Reisegepäck wieder ordentlich verschlossen war, setzte sich Rialla mit überkreuzten Beinen auf den dicken Teppich, der den Boden bedeckte.
Laeth warf sich rückwärts aufs Bett und sagte: »Nachdem wir festgestellt haben, dass der Hauptverdächtige mein Onkel ist, war es besser, es heute zu machen als nie, oder? Aber wer weiß«, fügte er bitter hinzu, »am Ende kommt gar ein weiterer Sklavenschinder aus seinem Versteck gekrochen und präsentiert sich uns als neuer Verdächtiger im Fall des missglückten Anschlags auf meinen Bruder.«
Von ihrem Platz am Boden aus hatte Rialla nur Laeths Füße im Blick, aber mehr musste sie auch nicht sehen, um zu verstehen, wie er sich fühlte. »Tut mir leid, Laeth. Vielleicht war er es ja gar nicht. Das Sklavenmädchen könnte auch jemand anderem gehört haben.«