»Nein«, gab er zurück. »Ich hab Terran erzählt, dass ich eine Sklavin mit ungewöhnlich dunkler Haut hier eintreffen sah, und er sagte mir, dass sie Onkel gehörte. Und dass sie letzte Nacht … gestorben sei.«
»Sie könnte aus einer Gegend stammen, in der ich noch nie gewesen bin. Es gibt viele Völker im fernen Süden, bei den Salzseen oder hinter dem Meer, die ich noch nie gesehen habe. So unfehlbar ist meine Empathie nun auch nicht, dass ich ihre Herkunft aus dem Osten beschwören könnte.« Rialla versuchte mit ihren Einwänden vor allem seinen Kummer zu lindern, überzeugt war sie von ihren vorgebrachten Argumenten jedoch nicht.
»Ich bezweifle nicht, dass das Mädchen aus dem Osten stammte. Ist schon in Ordnung, Ria, du musst Onkel nicht entschuldigen. Selbst wenn er nicht vorhat, Karsten zu töten, ist er nicht der Mann, den ich zu kennen glaubte. Er ist nicht nur ein Sklavenschinder, er ist auch Sklavenhändler.« Er lachte trocken auf. »Und weißt du was? Wäre ich dir nie begegnet, hätte es mich wohl nicht mal gestört.«
Laeth setzte sich auf der Matratze auf, schlug die Beine unter und kümmerte sich nicht weiter darum, was seine Stiefel mit der Tagesdecke anstellten. »Ich hab mich zwar immer gefragt, woher sein Reichtum stammt, war aber nie sonderlich an einer Antwort darauf interessiert. Bevor er das Winterseine-Anwesen von einem Cousin erbte, besaß er nur ein bisschen Grund und Boden im Süden, auf dem man allenfalls Landwirtschaft betreiben konnte, aber mehr auch nicht. Alles, was Großvater besaß, ging an Vater und danach an Karsten. Wenn Onkel sein Geld tatsächlich mit Sklavenhandel verdient, hat er definitiv einen Grund, meinen Bruder zu töten.«
Rialla griff nach oben, berührte flüchtig sein Knie – eine selten Geste von ihrer Seite. »Lady Marri hat vielleicht nicht sehr danebengelegen, als sie behauptete, jemand versuche, dir die Anschläge auf Karsten anzuhängen. Falls Winterseine es irgendwie gelungen ist, den Verdacht auf dich zu lenken, erlangt er im Erfolgsfall die totale Kontrolle über alles, was Karsten besitzt, wie auch einen Großteil seiner Macht.«
Laeth seufzte und lächelte sie müde an. »Ich denke, wir müssen einfach dafür Sorge tragen, dass mein Bruder nicht ermordet wird. Dann muss ich mir auch keine Gedanken mehr machen.«
Westholdts großer Ballsaal war für das anstehende Ereignis auf Hochglanz gebracht worden. Trotz seiner beachtlichen Größe war er kaum imstande, alle Gäste aufzunehmen, die heute hier erschienen waren, um den Geburtstag des mächtigsten Lords des Reiches zu feiern. Man fand kaum einen Platz zum Stehen, geschweige denn zum Tanzen.
Die Angehörigen der Oberschicht und die wohlhabenderen Händler und Grundbesitzer der Umgebung waren geladen worden, um sich unter die einflussreiche Aristokratie zu mischen. Vermutlich, so dachte Rialla, als sie sich mit einem kühlen Krug Bier aus der Küche durch die Menge schob, hatte Karsten den Landadel vor allem deshalb eingeladen, damit dieser einige seiner Übernachtungsgäste bei sich unterbringen konnte und man sie nicht in der Feste beherbergen musste.
Sie hatte an diesem Abend schon viele Besorgungen und Botengänge gemacht, sodass sie sich trotz ihres Sklavenstatus immer wieder unter die Gäste mischen konnte. Trotzdem hatte sie nichts Bedeutsameres aufgeschnappt als Getuschel über den Schwarzhandel. Bisher war es ihr geglückt, Lord Winterseine aus dem Weg zu gehen, was allerdings daran lag, dass er nicht nach ihr Ausschau hielt, doch sie war sich seiner Anwesenheit sehr wohl bewusst.
Als sie sich Laeth näherte, bemerkte sie, dass auch Lord Karsten und Lady Marri zu seiner kleinen Gruppe gestoßen waren. Laeths Bruder sah blass aus und hatte die meiste Zeit auf den Sofas sitzend zugebracht, die hier und da in den Ecken des Saals standen. Marri hatte ihre Hand auf seinen Arm gelegt und hielt den Blick gesenkt, wie es sich für eine sittsame darranische Ehefrau schickte. Laeths Cousin Terran hielt sich schweigend mit einigen anderen jungen Männern im Hintergrund.
»… von Glück sagen, dass der Heiler so gut ist«, hörte Rialla Laeth sagen, als sie näherkam. Sie reichte ihm den Bierkrug.
»Allerdings«, stimmte Karsten zu. »Deshalb hab ich ihm heute Morgen eine Einladung für das Fest geschickt, damit ich ihn angemessen entlohnen kann.«
»Hoffentlich hast du ihm genug Schmiergeld bezahlt, dass er überhaupt hier auftaucht. Wenn du ihm nämlich nicht in aller Öffentlichkeit deinen Dank zollst, könnten die Leute denken, du hättest keine Manieren.« Angesichts dieses frechen Kommentars von Laeth zog jemand scharf die Luft ein, doch sein Bruder lachte nur.
»Tatsächlich hab ich ihm in Aussicht gestellt, dass ich die Abgaben, die das Dorf mir schuldet, dauerhaft senken werde«, meinte Karsten und grinste seinen Bruder schelmisch an. »Wenn ihn das nicht herlockt, dann weiß ich auch nicht mehr weiter.«
»Lady Marri sieht durstig aus«, bemerkte Laeth lakonisch. »Hättet Ihr gern etwas aus der Küche. Einen Krug Bier vielleicht?«
»Ja, bitte«, erwiderte sie. Mit einer knappen Geste schickte Laeth Rialla zurück in die Küche.
Sie war schon fast bei der Tür, als ein unbestimmter Impuls sie herumfahren und nach oben sehen ließ. In einer Ecke der gewölbten Decke fügte sich nach und nach ein Schattengebilde zusammen, bis es eine monströse, sich windende Gestalt angenommen hatte, die sich nun schlängelnd durch die Lüfte bewegte.
Auch jemand anderes bemerkte das Ding und schrie entsetzt auf. Die Kreatur, nun vollständig materialisiert, bewegte sich wie eine riesige fliegende Schlange mit Tentakeln auf Lord Karsten zu. Dann zögerte sie, als ob etwas ihre Aufmerksamkeit erregt hätte. Gleichzeitig spürte Rialla, wie ihr Geist berührt wurde, zögernd zwar und sacht, doch es ließ sie auf der Stelle erstarren.
Das Geschöpf wechselte die Richtung in einer Geschwindigkeit, die man etwas von dieser Größe eigentlich nicht zugetraut hätte. Hörbar peitschte sein Schwanz durch die Luft. Dabei fielen grünlich-braune Fetzen rauen, unkrautartigen Gewebes von seinem Körper ab, als leide es an Aussatz. Das Ende seines Schwanzes war mit scharfen schwarzen Stacheln bewehrt, die feucht im vom Kerzenlicht illuminierten Tanzsaal schimmerten. Das einzig Farbenfrohe an der Kreatur waren ihre leuchtend roten Augen. Alle sechs glitzerten und funkelten wie unschätzbar wertvolle Rubine, als sich der Blick des Ungeheuers nun auf seine Beute richtete – Rialla.
Wie gebannt machte Rialla einen Schritt auf die Kreatur zu, die vor ihr in der Luft auf und ab schwebte. Während sie so dastand, rannte ein Großteil der Gäste panisch aus dem Tanzsaal, sodass um sie herum eine Menge Raum entstand. Allein eine Gruppe Menschen um Lord Karsten, die am hinteren Ende des Saals stand, war nicht geflohen.
Langsam bewegte die Kreatur einen ihrer seilartigen Tentakel auf sie zu und zerzauste Riallas Haar. Älter als alle Kreaturen, die sie auf diese Weise berührt hatten, war auch dieses Geschöpf ein Empath. Es nährte sich von den Emotionen der anderen, bis nichts mehr übrig war, und verspeiste schließlich auch die Körper seiner Opfer – Rialla konnte seine Vorfreude förmlich spüren.
Das Ungeheuer war für Rialla zu fremdartig, als dass sie nicht mehr als einige wenige fundamentale Gedanken aufschnappen konnte. Doch sie wusste, was es im Schilde führte. Dass es auf einen anderen Empathen getroffen war, verhieß ihm einen unerwarteten Leckerbissen – an dergleichen hatte es sich noch nie gütlich getan.
Fast bedächtig und doch ohne Vorwarnung schickte es einen einzelnen Gedankenstrahl hinaus. Angsterfüllt schrie Rialla auf, und die Furcht riss sie aus ihrer Trance. Wie von Sinnen und doch mit der Beweglichkeit einer Tänzerin entzog sie sich der Berührung des Tentakels und rannte. Noch im Laufen riss sie eins der soliden Schwerter, die überall im Saal an den Wänden hingen, aus seiner Verankerung und hielt es in geübter Haltung vor sich. Sie schmeckte das Blut, wo sie sich auf die Lippe gebissen hatte.
Ein weiterer schwarzer Tentakel folgte und griff nach ihr. Als sie danach schlug, wickelte er sich einfach um die Klinge und zog behutsam daran. Scheppernd landete das Schwert auf dem Boden, weit entfernt von Rialla.