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Fluchend schnappte sie sich einen schmiedeeisernen Kandelaber und riss die Kerze von dem spitzen Dorn, auf dem sie aufgesteckt war. Die Kerze erlosch, als sie achtlos über den Fußboden rollte.

Auf den ersten Blick schien der Leuchter eine fast so gute Waffe zu sein wie das Schwert. Die Spitze war scharf genug, um so ziemlich alles aufzuspießen, was sich ihr in den Weg stellte. Aber er war nur zwei Handspannen hoch. Wenn sie von der Größe der Kreatur ausging, war das lang genug, um sie allenfalls zu erzürnen. Auch war der Leuchter schwer und damit unhandlich. War die Kreatur also nicht so dumm wie ein aufgebrachter Keiler, würde Rialla der Kerzenhalter herzlich wenig nützen. Und das, was sie von ihrem Gegner erspürt hatte, ließ darauf schließen, dass er klüger war als sie selbst. Mehr noch, obwohl sie ihre mentale Barriere so gut es ging verstärkte, konnte sie spüren, wie ihr Gegenüber sie ob dieses Versuchs verspottete.

Rialla ließ den nutzlosen Kerzenhalter fallen und trat zurück. Dann wartete sie in aller Ruhe darauf, dass die Kreatur sie erneut berührte. Es gab da eine Waffe, derer sie sich noch nie bedient hatte. Sie hatte gehört, dass es möglich war, den Angriff eines Gegners gegen ihn selbst zu richten. Rialla hoffte, dass sie stark genug dafür war.

Ein lockerer Tentakel legte sich so zart um ihren Hals, dass es fast kitzelte. Der Schweiß rann ihr den Nacken herunter, als sie darauf wartete, dass das Wesen nach ihrem Geist griff. Und als dies geschah, hieß Rialla das Geschöpf willkommen, lockte es tiefer und tiefer in ihr Bewusstsein hinein. Dann, in einer wilden, verzweifelten Anstrengung, riss sie die Barriere nieder, verbannte die Emotionen aller noch Anwesenden aus ihrem Kopf und kanalisierte sie in den Geist ihres Widersachers. Wenn sie sich schnell genug von all dem befreien konnte, würde sie nur ein Bruchteil des erzielten Effekts selbst treffen. Theoretisch.

In diesem Moment schnappte sie etwas aus der Menge der noch im Ballsaal Versammelten auf – eine Stimme in ihrem Kopf. Es waren die Gemütsbewegungen von Lord Karsten – eine Mischung aus empfundenem Verrat und grenzenloser Überraschung –, dann heißer Schmerz, der zu einem Nichts wurde, das Rialla als den Tod erkannte. Ein Wirbel aus unterschiedlichsten Gefühlen entströmte den Menschen, die neben Karstens Körper standen oder knieten. Indem sie die Tragweite von Karstens Ermordung ignorierte, lenkte sie seine Sinnesreize wie sein Sterben in den Geist der Kreatur, gegen die sie kämpfte.

Das Ding schlug mit seinem Schwanz nach ihr, versuchte, ihre Konzentration zu stören, und hinterließ eine so klaffende Wunde in Riallas Oberschenkel, dass der große Muskel freilag. Sie kanalisierte den höllischen Schmerz zurück in ihren Angreifer. Die Kreatur zuckte, kämpfte wie von Sinnen dagegen an, als widersetze sie sich einer körperlichen Attacke, dann verlor sie die Kontrolle über ihre Gedanken und floh. Rialla erkannte ihre Chance und schickte die Panik des Geschöpfs sogleich zurück an ihren Ursprung. Als das Herz der Kreatur unter dem gewaltigen Adrenalinschub explodierte, versuchte Rialla hastig, ihren Geist abzuschirmen. Mit einem ohrenbetäubenden Jaulen fiel die Kreatur schwer zu Boden und blieb reglos liegen.

Erst jetzt wurde Rialla bewusst, dass sie auf Händen und Füßen kniete und dass der Boden vor ihr nass war. Der Geruch von verrottenden Pflanzen hing in der Luft. Während die Minuten verstrichen, wurde ihr klar, dass sie all ihre Kraft zusammennehmen musste, um sicherzustellen, dass niemand sie berührte. Sie spürte, wie sich ihr Menschen näherten, nachdem von dem Ungeheuer keine Gefahr mehr auszugehen schien.

Falls jedoch jemand auf die Idee kam, ihr aufzuhelfen, würde ihn dasselbe Schicksal ereilen wie die Kreatur, die sie soeben vernichtet hatte. Sie vermochte ihre Empathie gegen einen solchen Zugriff im Moment nicht mehr abzuschirmen.

Viele Leute waren nicht mehr im Ballsaal, was ihre desolate Verfassung ein wenig erträglicher machte. Durch ihre brüchige Barriere konnte sie Laeth und seinen unsagbaren Kummer spüren, den er wegen des Todes seine Bruders litt. Rialla empfing auch Lord Jarrohs Wut und Marris Überraschung angesichts der tiefen Trauer, die sie beim Anblick ihres toten Mannes empfand.

Der Heiler indes musste Karstens Angebot gefolgt sein, denn jetzt vernahm Rialla seine Stimme klar und deutlich in dem halbleeren Raum – ein ruhender Fels inmitten des im Ballsaal wogenden Chaos. »Lord Karsten ist tot. Das Messer hat sein Herz und den linken Lungenflügel durchstoßen; er starb fast augenblicklich. Es tut mir leid, aber ich kann nichts mehr für ihn tun.«

Jemand kam ihr zu nahe. Heiser presste Rialla ein »Bleib weg« hervor. Doch der Jemand hörte nicht auf sie, also fügte sie hinzu: »Es ist vielleicht noch nicht ganz tot …« Daraufhin zog die Person sich zurück.

Zu viele auf sie einströmende Gedanken wirbelten in ihrem Kopf. Sie musste ruhen, bevor sie jeden von ihnen abschirmen konnte. Der Stein war kühl an ihrer Wange, kalt und nass.

»Nein, bleibt zurück, Lord Laeth. Es sei denn, Ihr wollt so enden wie das Ding da hinten. Gebt ihr ein bisschen Zeit.« Das war wieder die Stimme des Heilers. Tris. Er würde die Leute von ihr fernhalten, bis sie die Barriere wieder errichtet hatte.

Sie entspannte und konzentrierte sich auf ihren Schutzschirm, doch zu schnell verlor sie die Kontrolle wieder. Sie hätte wissen müssen, dass Laeth sich nie an irgendwelche Anweisungen hielt. Stattdessen erspürte sie seine Absicht einen Augenblick zu spät. Als er sie berührte, schrie sie gellend auf, um ihn vor dem ganzen Gefühlschaos zu schützen, dem ihren und dem seinen. Gnädigerweise verlor Rialla kurz nach Laeth das Bewusstsein.

4

Rialla erwachte mit einem Lächeln. Während der kurzen Spanne bis zum vollständigen Wiedererlangen des Bewusstseins empfand sie das ungewöhnlich starke Gefühl von Wohlbefinden wie ein die Lippen benetzendes Stück Eis an einem heißen Tag. Widerstrebend schlug sie die Augen auf, bevor sie ganz in die Gegenwart zurückkehrte.

Anstatt der grauen Steinwände, an die sie sich auf Westholdt schon fast gewöhnt hatte, wurde der Raum von Holz dominiert. Die Bodendielen waren versiegelt und liebevoll auf Hochglanz poliert worden. Die Wände waren vertäfelt und schimmerten aufgrund des Leinölfirnisses dunkel. An der gegenüberliegenden Seite des Raums gab es ein großes Fenster mit kostbarem klaren Glas, wodurch das Zimmer von Tageslicht durchflutet wurde.

Die Stube war nur spärlich möbliert mit einem Bett, einem Tischchen in der hinteren Ecke und einem kleinen Webteppich. Ein spartanisches, übersichtliches Interieur, doch die warmen Holztöne und die Bettwäsche in Gelb und Rot verhinderten, dass der Raum unbehaglich wirkte. Es war offensichtlich, dass sie sich nicht mehr auf Westholdt befand, aber sie hatte nicht die geringste Ahnung, wo sie stattdessen sein könnte.

Rialla versuchte sich aufzusetzen und zog scharf die Luft ein, als sie einen stechenden Schmerz in ihrem linken Oberschenkel verspürte. Sie erinnerte sich an den Schlag durch den Schwanz der Sumpfkreatur, doch auf der Feste war sie zu sehr mit dem Kampf gegen dieses Geschöpf beschäftigt gewesen, um sich um ihre Verletzung zu sorgen.

Steif richtete sie sich auf dem Bett auf, zog die schwere Steppdecke von ihren Beinen und schwang ihre Füße auf den Boden. Ein dicker Verband aus ungebleichter Baumwolle bedeckte ihre linke Seite von der Hüfte bis zum Knie. Unter der Bandage klopfte es unangenehm in ihrem Bein, etwas, das sie beim Erwachen gar nicht bemerkt hatte. Sie rieb sich den Kopf, der ebenfalls angefangen hatte zu schmerzen, und versuchte zu rekonstruieren, was im Ballsaal geschehen war. Vielleicht konnte sie ja auf diesem Wege herausfinden, wo sie war. Und warum.

Es war nicht leicht, das Durcheinander der Gedanken und Emotionen der anderen zu entwirren, doch nach einigen Sekunden hatte sie wieder ein wenig Klarheit: Sie wusste, dass Lord Karsten tot war. Sie fühlte, wie er starb – ein kurzer brennender Schmerz, als die scharfe Klinge zwischen seinen Rippen hindurch in sein Herz gestoßen wurde.