Jemand sah, wie es geschah, sah wie Laeth das Messer in – Lord Jarroh hatte es gesehen; seine Gedanken waren ihr wohlvertraut. Wohlbekannt war ihr auch seine Wut, seit damals, als sie in Kentar als Tänzerin aufgetreten war.
Rialla schüttelte frustriert den Kopf. Sie wusste, dass Laeth seinen Bruder nicht ermordet hatte, hatte seinen Kummer, seinen Zorn gespürt, als er seinen Bruder zu Boden gehen sah. Warum also hatte Lord Jarroh etwas zu sehen geglaubt, was nie geschehen war? Und wo war Laeth? Warum war sie hier?
Ihr verletztes Bein missachtend, kam Rialla in den Stand, aber zu mehr war sie nicht in der Lage. Deprimiert versuchte sie, Laeth mittels ihrer Empathie zu erreichen, um sicherzustellen, dass es ihm gutging. In diesem Moment erkannte sie auch, dass die Fesseln, die ihre Gabe gebunden hatten, so restlos verschwunden waren, als hätte es sie nie gegeben. Der Kampf mit dem Monster hatte vollendet, was mit dem Tod der Empathin aus dem Osten begonnen hatte.
Ihr Geist berührte eine Maus in der Wand und ein Reh, das im nahegelegenen Wald äste. Aber sie konnte Laeth nicht erreichen – oder irgendeinen anderen Menschen. Versuchsweise errichtete sie den Schild, der sie vor unerwünschter Kontaktaufnahme schützte. Die Anwesenheit des Rehs und auch der Maus verblasste. Sie ließ den Schild wieder sinken, um nach einem anderen Lebewesen zu greifen.
Da berührte sie etwas. Es fühlte sich vertraut an, wie etwas, von dem man schon einmal geträumt hatte. Unwillkürlich breitete sich ein Lächeln auf Riallas Gesicht aus. Es war nicht das, was sie normalerweise empfing, wenn sie ein Lebewesen berührte. Sie nahm keinerlei Gefühle wahr, keinen einzigen Gedanken – nur Schönheit. Wie ein Bildhauer, der gelernt hatte, ein neues Material zu bearbeiten und dabei etwas Außergewöhnliches erschuf. Etwas nur für sie.
Fasziniert näherte sie sich dem Objekt. Sie war so gefangen in ihren Studien, dass sie zusammenschrak, als die Tür sich öffnete und der Heiler eintrat. Instinktiv schottete sie ihr Talent ab und setzte ihre undurchdringliche Sklavenmiene auf.
Doch woher war er gekommen. Mit der fallengelassenen Barriere und der ungezügelten Gabe hätte sie ihn erfassen müssen, noch bevor er ihr derart nahegekommen war. Auch wenn sie Winterseine nicht lesen konnte, ohne ihn zu berühren, war sie doch imstande zu sagen, wo er sich befand. Sie hatte sich wohl ablenken lassen von … was auch immer es gewesen war, das sie erspürt hatte.
Zumindest gab ihr seine Anwesenheit einen Hinweis darauf, wo sie sich befinden mochte. Dazu der Geruch nach Kräutern, der durch die geöffnete Tür ins Zimmer strömte. Ja, sie musste im Haus des Heilers in Tallonwald sein.
»Guten Morgen«, sagte er betont sachlich. »Wie geht es dir?«
Sie kniff die Augen zusammen, versuchte, in seinem Gesicht zu lesen. »Ging mir schon besser«, sagte sie ebenfalls sehr nüchtern.
Er lächelte. Die Belustigung wärmte den Blick in seinen graugrünen Augen und gelangte dann in seine Stimme. »Das glaub ich gern. Es wird dir besser gehen, wenn du die Beine wieder hochlegst.« Er machte keine Anstalten, ihr dabei zu helfen.
Sie sah ihn zweifelnd an, doch da er sich nicht von der Stelle bewegte, manövrierte sie sich unter Schmerzen wieder auf die Matratze und deckte sich mit dem Quilt zu.
Er wartete, bis sie bequem dalag, bevor er sich ans Ende des Bettes setzte und mit dem Rücken an die Wand lehnte. Er war ein kräftiger Mann, und so sank das letzte Drittel der Matratze unter seinem Gewicht beträchtlich ein.
»Ich weiß nicht, wie viel du noch vom Ende des gestrigen Abends mitgekriegt hast.« Es klang wie eine Frage.
»Ich war recht beschäftigt«, erwiderte Rialla, was durchaus der Wahrheit entsprach.
Der Heiler grunzte auf, dann sagte er: »Lord Karsten wurde ermordet. Jemand hat ihm von hinten ein Messer in den Rücken gejagt, während du mit dem Monster gekämpft hast. Lord Laeth wurde im Wachturm von Westholdt gefangen gesetzt. Der Verdacht gegen ihn wiegt schwer.
Lord Jarroh selbst sah, wie Laeth seinen Bruder in all dem Trubel erstach. Eine Wache berichtete zudem, dass die Dame des Hauses eines Nachts Laeths Gemächer verließ. Auch wurde berichtet, dass er am Abend vor dem Mord eine lautstarke Auseinandersetzung mit seinem Bruder hatte. Die einzige offene Frage ist indes, was mit dem Dolch geschah, mit dem Karsten erstochen wurde.
Einige Leute, mich eingeschlossen, haben ihn gesehen, doch er scheint wie vom Erdboden verschluckt. Er war sehr eindrucksvoll. Der Griff war silbern und wie eine Schlange mit rubinroten Augen geformt. So wie der, den Laeth bei sich trug, als Lord Karsten vergiftet wurde. Vermutlich hast du ihn gesehen.«
»Yawan!«, entfuhr es Rialla wütend und ließ dabei ihre Rolle endgültig fallen. Was für ein riesengroßer Mist!
»Allerdings«, erwiderte Tris. Er ließ sich noch ein bisschen tiefer gegen die Wand sinken. »Es scheint, als hätte jemand überaus gründlich dafür gesorgt, dass Lord Laeth für den Mord an seinem Bruder zur Verantwortung gezogen wird, es sei denn, Laeth war dumm genug, es wirklich getan zu haben.«
»Nein«, sagte Rialla. »Laeth war es nicht.«
Tris nickte. »Lord Winterseine hat Lord Jarroh erzählt, er habe seinen Neffen mal mit Magie herumexperimentieren sehen, als dieser noch ein kleiner Junge war. Und wie es schien, habe der erwachsene Laeth die Magie wohl wieder aufgenommen, als er in Sianim weilte, und das Monster aus dem Großen Sumpf hierhergebracht.
Tatsächlich stellte ich fest, dass Winterseine eine Menge über diese seltsame Kreatur wusste. Er wusste Jarroh gegenüber zu berichten, dass sie sich von den Emotionen anderer ernährt und auch, dass du eine Empathin bist – nicht dass jemand, der gestern Abend im Tanzsaal anwesend war, noch daran gezweifelt hätte.
Und so heißt es jetzt, Laeth hätte die Kreatur als Ablenkungsmanöver benutzt, um Karsten unbeobachtet zu ermorden. Und dass er dich brauchte, um die Aufmerksamkeit des Biestes auf dich zu lenken, damit sie am Ende nicht noch jemanden anderen tötet. Winterseine hat auch herumerzählt, dass er Laeth aufgefordert hätte, dich an ihn zurückzugeben, doch Laeth hätte sich geweigert. Winterseine sei überrascht und gekränkt deswegen gewesen, bis er Laeths wahre Pläne erkannte.«
»Ihr habt nicht mehr als mein Wort, dass Laeth Karsten nicht getötet hat«, sagte Rialla. »Und doch glaubt Ihr trotz all dieser belastenden Aussagen nicht, dass er der Täter ist? Warum?«
Tris sah sie kurz an, sein Blick war klar und wach, dann schaute er aus dem Fenster, als wüsste er, wie unangenehm es ihr war, jemandem in die Augen zu sehen. »Abgesehen davon, was ich von Winterseine halte?«, fragte er. »Ich habe Lord Laeth beobachtet, als Karsten erstochen wurde. Ich hab zwar nicht gesehen, wer ihn ermordete, aber Laeth war es nicht. Er versuchte nämlich gerade, sich durch die Menge zu drängen, um dir im Kampf gegen das Monster zur Seite zu stehen.«
Nun schaute Rialla ebenfalls aus dem Fenster, behielt Tris jedoch in ihrer peripheren Sicht. Seine umgängliche, fast vertrauliche Art machte sie nervös; er behandelte sie keineswegs wie eine Sklavin. Sie schätzte es, wenn Menschen vorhersehbar waren, daher hätte sie zu gerne gewusst, was diesen Heiler antrieb.
Unwillkürlich sah sie ihn an, wollte sein Gesicht studieren, bis Tris schließlich den Kopf zu ihr drehte. »Warum glaubt Ihr, dass es mich kümmert, was aus Lord Laeth wird«, fragte sie. »Immerhin bin ich nur seine Sklavin.«
Der Heiler lächelte. Sie konnte zwei zarte Grübchen unter seinem kurzgeschorenen Bart erkennen. Belustigung blitzte in seinen Augen. »Ach ja, eine Sklavin.« Er rieb sich das Kinn, tat so, als ob er nachdachte, dann schnippte er mit den Fingern. »Aber ich hab dir ja noch gar nicht den Rest der Geschichte erzählt. Heute in der Früh erschien Lord Winterseine hier. Wie es aussieht, ist er nach Karstens Tod Laeths nächster Verwandter und erhebt als solcher Anspruch auf Laeths Besitztümer, dich eingeschlossen. Ich sagte ihm, dass du derzeit zu krank bist, um zu reisen. Wie dem auch sei, bist du sicher, dass du nicht mehr bist als Laeths Sklavin?«