»Als Erstes«, sagte Rialla, »muss ich Laeth aus dem Wachturm herausholen. Ich vermute, man wird ihn für den Tod seines Bruder hängen, sofern Winterseine kein Geständnis ablegt.«
»Dabei kann ich dir helfen«, sagte Tris. Er schloss seine Hand und öffnete sie wieder, um ihr die gelbe Rose zu zeigen, die nun darin lag. Er brachte die Blume vor sein Gesicht, roch daran und übergab sie dann an Rialla. »Ich habe Talente, die sich als durchaus nützlich erweisen könnten«, fügte er hinzu.
Sie sah die Rose an, fragte sich, ob er Magie gewirkt hatte oder einfach nur geschickte Hände besaß. Sie kam zu dem Schluss, dass es keine Rolle spielte, und lächelte ihn schwach an. »Danke schön.«
»Und nachdem du Laeth befreit hast?«, fragte Tris nachdenklich.
»Bei den Göttern«, sagte sie. »Fragt mich besser nicht. Ich bin Pferdeausbilderin, keine Spionin. Ich denke, ich werde mit Laeth nach Sianim zurückkehren.« Etwas an der Idee, sich nach Sianim zurückzuziehen, hinterließ einen schlechten Geschmack in ihrem Mund, aber sie wusste nicht, was sie sonst tun sollte.
Tris erhob sich. »Du bist nicht in der Lage, irgendwas zu unternehmen, bis dein Bein dich nicht wieder tragen kann, also lass mich mal einen Blick unter den Verband werfen.«
Er zog ein Messer aus seinem Stiefel und schob die Bettdecke zur Seite. Mit flinker Präzision, die viel über die Schärfe seiner Klinge aussagte, schnitt Tris die Bandagen von ihrem verletzten Bein.
Nach dem Aussehen der Wunde zu urteilen, hatte einer der Stachel sie direkt über dem Knie erwischt und den Muskel bis fast hoch zur Hüfte aufgeschlitzt. Das Fleisch rund um den Riss war mit kleineren Wunden durchsetzt. Der Kräuterwickel, der über der offenen Stelle lag, war zu einer grünen Masse geworden, wodurch das Ganze noch hässlicher aussah, als es sich ohnehin schon anfühlte, doch was Riallas Aufmerksamkeit erregte, war der üble Geruch.
Rasch hielt sie sich die Nase zu. »Was ist das für ein Gestank?«
Kurz unterbrach Tris die Begutachtung ihrer Verletzung und sah, offenbar unbeeindruckt durch den fauligen Geruch, auf. »Ich bin nicht sicher, welche Art Gift dieser Seelenfresser benutzt. Die Kräuterpackung sollte das meiste davon eigentlich aus der Wunde gezogen haben. Der größte Gestank geht wohl von dem Schadstoff aus, obwohl auch die Blätter einen sehr starken Eigengeruch entwickeln. Ich werde diesen Wickel so lange erneuern, bis der Geruch des Gifts nachlässt, dann kann ich damit beginnen, dich zu kurieren.«
Er nahm eine mit Öl behandelte Bandage von seinem Stapel und breitete sie auf dem Bett aus. Dann holte er eine kleine Pinzette aus seiner Tasche, die auf dem Boden stand, und begann behutsam, die langen grünen Blätter von ihrem Bein zu entfernen. Als die großen Teile fort waren, widmete er sich vorsichtig den kleinen grünen Kräuterhäckseln, die überall auf der Wunde lagen. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, und Rialla biss sich auf die Unterlippe, als die überaus hingebungsvolle Behandlung doch ab und an schmerzhaft geriet.
Tris sammelte alles, was er von der Wunde gezupft hatte, ein und verließ den Raum. Kurz darauf kehrte er mit zwei Schüsseln wieder, in denen sich kochend heißes Wasser befand. Er stellte sie auf dem Boden ab, tauchte die frischen Bandagen ein, wrang sie aus und legte sie Rialla auf das Bein. Die Wundreinigung wurde so lange wiederholt, bis der Stoff sich abgekühlt hatte. Schließlich war die Verletzung vollständig gesäubert, und Rialla zitterte.
Vorsichtig holte der Heiler sodann ein Bündel aus seiner Tasche, das getrocknete Pflanzenblätter enthielt, so lang wie Riallas Unterarm und zweimal so breit. Eine Hand voll davon legte er in die zweite Schüssel mit Wasser, damit sich die Blätter vollsaugen konnten.
»So«, sagte er, und sein normalerweise leichter Akzent wurde vor lauter Mitleid etwas stärker, »ich gebe nun ein bisschen von diesem Pulver auf den Schnitt, das sollte den Schmerz ein wenig lindern.« Während er sprach, verteilte er den gelben Puder in dem Wundriss, den er mit der anderen Hand etwas weitete. »Es ist ein Betäubungsmittel aus einer Pflanze, auf der ich mal einige einheimische Jugendliche herumkauen sah.«
Er begann die eingeweichten Blätter auf ihrem Bein zu verteilen und versuchte dabei, sie mit dieser Geschichte abzulenken. »Einer von ihnen hatte sich ein bisschen zu viel von dem Zeug genehmigt, und ich hatte einige Mühe, ihn davon abzuhalten, sich die Hand abzuhacken. Er dachte, es befände sich ein Wurm darin, der sich nun bis zu seinem Herzen durch seinen Körper fraß.
Ich musste danach dem ganzen Dorf hier einen Vortrag über dieses Kraut halten. Doch zur Sicherheit sorge ich dafür, dass, wann immer ich’s in der freien Natur erblicke, sein Geschmack für alle Zeiten bis zur Ungenießbarkeit verdorben sein wird. Ich hab auf diese Weise fast alle Pflanzen, ähm, behandelt, und die meisten Jugendlichen in der Gegend lassen inzwischen die Finger davon, aber als äußerliches Betäubungsmittel ist es fast unersetzlich.«
»Ihr seid ein Magier?«, fragte Rialla zögernd. Darran war kein Ort, an dem man freiwillig zugab, die Hexenkunst auszuüben, doch Tris’ Worte legten diese Frage nahe.
»Magieanwender«, sagte er, als wolle er sie korrigieren, doch soweit Rialla wusste, gab es da keinen Unterschied. »Hast du ein Problem damit? Immerhin bist du keine Darranerin.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«
Er zog die Reste der alten Bandage unter ihrem Bein fort und umwickelte es mit dem neuen Verband. »Sieh mal, wir sind fast fertig.«
Draußen im Vorraum schrillte eine Glocke, und er rief: »Ich komme ja schon! Kein Grund, meine Trommelfelle zu strapazieren!« Er beendete seine Arbeit, räumte alles wieder zusammen und ging dann in den vorderen Raum. »Versuch, dich ein bisschen auszuruhen«, sagte er zu Rialla. »Ich komme zurück, wenn ich hier draußen fertig bin.«
Rialla schloss die Augen und ertrug das Pochen in ihrem Bein noch einige Minuten, dann ließ der Schmerz allmählich nach. Sobald das Pulver die Wunde ganz betäubt hatte, fiel sie wieder in einen tiefen Schlaf.
Als sie erwachte, hatte Tris den kleinen Tisch neben ihr Bett geschoben. Die Oberfläche der Tischplatte bestand aus Intarsien aus hellen und dunklen Holzquadraten, die ein Spielbrett bildeten. Auf den Quadraten standen kleine hölzerne Spielsteine in Tierform, sowohl echten als auch erdachten Geschöpfen nachempfunden.
Die Spielsteine, die sich auf ihrer Seite des Bretts befanden, waren so lange mit Öl behandelt worden, dass sie fast schwarz schimmerten. Auf der gegenüberliegenden Seite saß Tris auf einem Stuhl, den er aus einem anderen Zimmer herbeigeschafft haben musste, und stellte gerade gewissenhaft ähnliche Spielsteine auf, die jedoch aus einem hellen Holz geschnitzt worden waren.
Ohne Rialla anzusehen, sagte der Heiler: »Ich habe dieses Spiel von meinem Vater gelernt, und nun lehre ich es dich. Hier würde man es wohl ›Drachenraub‹ nennen«, er hielt eine liebevoll geschnitzte geflügelte Echse hoch, »denn das Ziel des Spiels ist es, dem anderen seinen Drachen zu stehlen.«
Ausführlich erklärte er Rialla, wie man Strategien entwickelte, und auch die Wichtigkeit von List, Täuschung und Rückzug. Er beendete seine erste Stunde mit den Worten: »Natürlich erkennst du jetzt, dass alles, was ich soeben ausgeführt habe, dir kein bisschen helfen wird. Der einzige Weg zu lernen besteht darin, zu spielen.«
Schon seit einer Weile hatte Rialla eingesehen, dass es unmöglich war, dem Heiler gegenüber Zurückhaltung zu üben. Er ließ es einfach nicht zu. Stattdessen überging er ihr Schweigen und behandelte sie, als ob sie sich schon seit Jahren kannten.
Nach den ersten zwanzig Zügen des Spiels schaute Tris in ihre stoische Miene, der Blick unter seinen schweren Augenbrauen war fast stechend, als er mit bedrohlicher Stimme flüsterte: »Frau, wer um alles in der Welt hat dir gezeigt, wie man spielt?«
Rialla konnte es nicht glauben, aber sie musste kichern. Nie zuvor war ein solch lächerliches Geräusch aus ihrer Kehle gedrungen, und sie zog sich rasch die Decke vor den Mund, damit das nicht noch einmal geschah.