Als sie dachte, ihren Heiterkeitsausbruch wieder halbwegs unter Kontrolle zu haben, sagte sie: »Es gab da eine Frau in Sianim, die das Spiel jedem beigebracht hat, den sie zu fassen kriegte. Sie hat sogar einmal pro Woche Turniere veranstaltet. Sie meinte, damit bekäme man das Gesindel von der Straße und lehre es gleichzeitig ein gewisses Maß an Hinterlist – keine unwichtige Eigenschaft für einen Söldner.«
Tris knurrte sie an und machte seinen Zug. Das Spiel schritt fort, das Gesicht des Heilers wirkte von Augenblick zu Augenblick verkniffener, und er brauchte auch immer länger, um seinen Spielstein zu setzen. Rialla vermutete, dass er ihr den Gekränkten nur vorspielte, denn seine Schultern waren nach wie vor entspannt und seine Bewegungen unverkrampft.
Sie nahm ihm einen seiner Spielsteine weg. Er blitzte sie erbost an, überließ sie aber dem Kampf gegen ihren drohenden Lachanfall.
Es begann zu dämmern, und mit einer ungeduldigen Geste brachte Tris die Öllampen an den Wänden zum Brennen. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder ihrer Partie zu und ignorierte Riallas Erstaunen darüber, wie beiläufig er sich der Magie bediente. Alle Magier, die sie bisher kennengelernt hatte, benutzten ihre Kunst eher sparsam.
Während sie den Heiler beobachtete, fragte sich Rialla, warum sein Groll sie nicht im Geringsten verstörte, wie es bei anderen Männern so oft der Fall war. Selbst wenn Laeth so aufbrauste, wie Tris es manchmal tat, dann schüchterte sie das ein, selbst wenn sie wusste, dass er es nur im Spaß tat. Warum also musste sie lachen, wenn dieser völlig fremde Mann sie böse anfunkelte?
Versuchsweise lüftete sie ihren Schild und griff mit den imaginären Fingern ihrer Gabe um sich. Längst hatte sie festgestellt, dass Tris sich nicht so ohne Weiteres lesen ließ, doch vielleicht konnte sie mehr erfahren, wenn sie sich ganz auf ihn konzentrierte. So streckte sie ihre empathischen Fühler nach ihm aus und wich verblüfft zurück.
Tatsächlich hatte sie ihn schon einmal erspürt. Er war die faszinierende Präsenz gewesen, die sie beim Erwachen in diesem Haus wahrgenommen hatte. Eine Präsenz, die ihrem Wesen nach so fremd gewesen war, dass Rialla sie nicht einmal als menschlich ausgemacht hatte.
»Du bist am Zug«, sagte er.
Nur widerstrebend schirmte sie ihre Gabe wieder ab. Abwesend bewegte sie ihren Stein über das Brett und widmete sich dann wieder ihren Überlegungen. Im Fall von Winterseine und den anderen Magiern, die sie bisher versucht hatte zu lesen, hatte sie gerade einmal deren Ausstrahlungskraft wahrgenommen, sofern sie sie nicht direkt berührte. Sie hatte vermutet, dass die Disziplin, die nötig war, um Magie zu kontrollieren, die Anwender auch in die Lage versetzte, sich gegen ihre Empathie abzuschirmen. Und sie fragte sich, warum Tris in dieser Hinsicht anders war.
»Du bist am Zug.« Ein verräterischer Hauch von Befriedigung lag in seiner Stimme, sodass Rialla sich wieder auf das Spiel konzentrierte.
Ihr letzter Zug hatte die Strategie, die sie sich in den letzten Stunden zurechtgelegt hatte, mit einem Schlag zunichtegemacht. Mit jedem weiteren möglichen Spielzug würde sie Tris ihren Drachen ausliefern. Selbst wenn sie beschloss, nicht zu ziehen, was in diesem Spiel durchaus möglich war, würde er ihn trotzdem stehlen können.
»Gibst du auf?«, fragte er erwartungsvoll. Sie stutzte, schloss den Mund und richtete ihre Aufmerksamkeit ganz auf das Spielbrett.
»Noch nicht«, erwiderte sie. Irgendetwas musste sie übersehen haben. Stirnrunzelnd starrte sie das Brett an. Sie konnte nichts unternehmen, um ihren Drachen zu schützen, aber vielleicht gab es eine Möglichkeit, seinen zu stehlen. Mit einem triumphierenden Grinsen nahm sie ihre Ratte und bewegte sie an dieselbe Stelle, auf der sein Drache stand. »Drachenraub!«, jubelte sie.
»Ich gebe mich geschlagen«, kapitulierte er und schaute betrübt auf das Brett. Er sammelte die Spielsteine ein und verstaute sie in der Schublade des kleinen Tisches wie eine Mutter, die ihre Kinder zu Bett brachte. Als er damit fertig war, lag ein breites Lächeln auf seinem Gesicht. »Das war das erste gute Spiel seit meiner Ankunft in Tallonwald. Revanche folgt morgen. Und jetzt solltest du ein bisschen schlafen.«
Sie ließ sich aufs Bett sinken und zog die Decke über sich, während Tris in Richtung der Lampen winkte. Willfährig löschten sich die kleinen Flammen von selbst.
»Wenn du etwas brauchst, ruf mich einfach«, sagte der Heiler. »Ich bin nebenan. Süße Träume.«
»Die wünsche ich Euch auch«, erwiderte Rialla gähnend.
Am nächsten Morgen roch der Wickel um Riallas Bein noch immer nach verfaulten Zwiebeln, also ersetzte Tris die alten Pflanzenblätter durch frische und legte ihr einen neuen Verband an. Danach brachte er zwei Schüsseln mit dickem Haferschleim ans Bett und plauderte mit ihr, während sie gemeinsam ihr Frühstück einnahmen. Schließlich verließ er die Hütte, um ein paar Kräuter zu suchen, die er für seine Heilkunst benötigte.
Rialla wartete, bis er fort war, um mit ihrer neu entdeckten Empathie herumzuexperimentieren. Wenn sie die Gabe dazu benutzen wollte, Laeth zu retten, musste sie herausfinden, wie gut sie funktionierte.
Als sie ihren Schutzschild fallen ließ, fühlte sie sich entblößt. Unruhig rutschte sie auf der Matratze hin und her und zog sich die Decke bis unters Kinn, als ob die Verhüllung ihres Körpers den Verlust ihres mentalen Schutzes irgendwie ausgleichen konnte. So oder so, die Barriere blieb vorerst unten.
Als sie spürte, dass sich der Heiler der Hütte näherte, schwitzte sie und war gänzlich erschöpft. Aber sie wusste in diesem Moment auch, dass sie fast wieder so stark war wie vor dem Tag, an dem Winterseine sie versklavt hatte. Und auch wenn das Ganze noch nicht so mühelos vonstatten ging wie einst, war doch ihr Schutzschild massiver als je zuvor.
Als Tris den Raum betrat, um nach ihr zu sehen, legte er ihr besorgt die Hand auf die Stirn. »Wie fühlst du dich?«
Vorsichtig zuckte Rialla die Achseln; die Übungen hatten ihr hässliche Kopfschmerzen beschert. »Ganz gut.«
Tris grunzte zustimmend, dann sagte er: »Jetzt gibt’s erst mal Mittagessen, und danach machst du ein kleines Nickerchen.«
Doch Rialla war schon eingeschlafen, als er mit dem Tablett ins Zimmer zurückkehrte.
Als Rialla die Augen öffnete, waren die Öllampen entzündet, und Tris grübelte murmelnd über dem Spielbrett – offensichtlich spielte er eine Partie »Drachenraub« gegen sich selbst.
Sie sah ihm eine Weile dabei zu, dann sagte sie: »Schwarz gewinnt. Wenn Ihr den schwarzen Sperling drei Felder nach links bewegt, kann der schwarze Hirsch den weißen Drachen in zwei Zügen schlagen.«
Tris nickte stumm, riss sich von dem Spiel los und stand von seinem Hocker auf. Dann ging er um den Tisch herum, der beim Bett stand, und nahm so Riallas Blickwinkel ein. Nachdenklich rieb er sich über den Bart und warf seiner Patientin einen argwöhnischen Blick zu.
Im nächsten Moment hatte er die Steine für ein neues Spiel aufgestellt. »Bereit für die Revanche?«, fragte er.
Rialla schenkte ihm ein träges Lächeln und setzte sich auf. »Bereit, noch einmal zu verlieren?«
Er hob eine Augenbraue, fletschte mit einem Augenzwinkern die Zähne und machte seinen ersten Zug. »Genieße nur deine Freude, Liebes, denn später wirst du dazu keinen Grund mehr haben.«
Still lag der Raum da, doch er summte förmlich vor gespannter Konzentration – Tris war beim Spiel ebenso ehrgeizig wie Rialla. Nach zwölf Zügen hatte er die Partie so gut wie gewonnen. Entspannt lehnte er sich zurück, während Rialla verdrießlich auf das Brett starrte und nach einem Ausweg suchte.
»Erzähl mir von Laeth«, sagte er, während er auf Riallas Zug wartete.
Misstrauisch sah sie ihn an. Doch nach einem erneuten Blick aufs Spielfeld kam sie zu dem Schluss, dass er kein Ablenkungsmanöver versuchte. Achselzuckend zog sie mit einem ihrer Pilze und schlug seine Ratte, wobei sie den Stein keck vom Brett schubste. »Was wollt Ihr denn wissen?«