Versuchsweise stand Rialla auf und beugte das Knie, um die Muskeln des Oberschenkels ein wenig zu beanspruchen. Das Bein schmerzte, doch es trug ihr Gewicht. Sie schenkte Tris ein schnelles Lächeln, dann wandte sie sich zu Marri um: »Was wisst Ihr über den Turm? Wie ist er im Innern konstruiert? Wie viele Wachen gibt es dort? Und wo genau halten sie sich auf?«
Einen Moment lang starrte Marri auf Riallas Bein; die böse rote Narbe war unter der Tunika, die bis über die Schenkel reichte, verschwunden. »Laeth wird auf dem Gipfel des Turms gefangen gehalten«, sagte sie schließlich. Sie schloss die Augen, wie um sich das Innere des Bauwerks in Erinnerung zu rufen. »Der Turm hat insgesamt vier Ebenen. Die erste Etage liegt unterirdisch und diente ursprünglich als Waffen-und Vorratslager, das aber niemand mehr benutzt. An der Treppe, die dort hinunterführt, steht normalerweise eine Wache. Außer diesem Wachmann halten sich im Erdgeschoss noch zwei oder drei weitere auf. In der Etage darüber sind die normalen Gefangenen untergebracht. Hier wird nicht immer eine Wache abgestellt, doch mit einem Häftling oben im Turm sind es derzeit wohl einige.«
Tris knurrte und sagte zu Rialla: »Wenn ich Laeth aus dem Turm heraushole und hierherbringe, kannst du dann zwei Pferde besorgen? Ihr werdet sie für die Flucht brauchen.«
»Was meint Ihr damit, dass Ihr Laeth aus dem Turm herausholt? Wollt Ihr das etwa ganz allein machen? Ich hoffe, ich kann für Laeth und mich hier in Tallonwald oder im nächsten Dorf Pferde beschaffen. Wie auch immer, ich komme mit Euch.«
Doch der Heiler schüttelte den Kopf. »Es wird einfacher sein, wenn ich das selbst erledige. Die Heilung hat dich mehr erschöpft, als es dir im Moment scheinen mag. Falls Laeth und ich vor unseren Verfolgern fliehen müssen, wirst du nicht die Ausdauer haben, ihnen zu entkommen.«
»Und die Pferde sind wichtig«, fuhr er fort. »Hier im Dorf wird man keines entbehren können. Und selbst wenn: Lord Jarroh ist alles andere als ein vernünftiger Mann und würde die Besitzer wohl als Fluchthelfer bestrafen, selbst wenn ihr ihnen die Pferde stehlen würdet. Wenn ihr versucht, es zu Fuß nach Wildbach zu schaffen, dann werden die Wachen euch schon auf halber Strecke eingeholt haben. Ich schätze also, die Sache mit den Pferden wird schwieriger werden als Laeths Befreiung – er kann wenigstens über eine Mauer klettern.«
Rialla sah den Mann stirnrunzelnd an. »Warum tut Ihr das alles?«
Der Heiler schenkte ihr ein rätselhaftes Lächeln und sagte: »Schreib es meiner tiefempfundenen Abneigung gegen sowohl Lord Jarroh als auch Lord Winterseine zu, wenn du willst. Für die Gelegenheit, dem einen oder dem anderen ein wenig Ungemach zu bereiten, nehme ich ein bisschen Gefahr gern in Kauf.«
Rialla hatte den dumpfen Verdacht, dass sie sich mit dieser Antwort würde begnügen müssen.
»Und was kann ich tun?«, ließ sich nun Marri vernehmen.
»Ihr habt schon genug getan«, erwiderte Tris. »Wenn Euch hier draußen jemand sieht, wird man Euch für Laeths Ausbruch zur Verantwortung ziehen, dessen bin ich mir sicher. Ein Delikt, das die Todesstrafe nach sich ziehen wird, auch für Angehörige des Adelsstandes. Wenn Ihr wollt, könnt Ihr hier auf seine Rückkehr warten, bevor ich Euch unbemerkt zurückbringe.«
Sie wirkte enttäuscht, doch schließlich nickte sie. Rialla vermutete, dass sie nur zustimmte, weil sie wusste, dass sie im Zuge von Laeths Befreiung mehr Belastung als Nutzen darstellen würde, und nicht, weil sie um ihre eigene Sicherheit fürchtete.
»Habt Ihr irgendwelche Waffen hier?«, fragte Rialla. »Das Einzige, was ich aus Sianim mitgebracht habe, war ein Messer, und das liegt noch in Laeths Gemächern auf Westholdt.«
»Alles, was meine Dame wünscht«, erwiderte der Heiler galant, während er auf die vertäfelte Wand zuging.
Nur leicht berührte er das Holz; schon bewegte sich eines der Paneele so weit nach vorn, dass Tris es auf verborgenen Schienen ganz hinter die Verkleidung gleiten lassen konnte. Dahinter erschien eine große Reisetruhe, die fast den ganzen Boden des Geheimraums einnahm, doch ringsum hingen und standen Waffen, die meisten davon Fernwaffen.
Rialla sah Tris zweifelnd an. »Sieht aus wie der wahrgewordene Traum eines Wilderers. Und ich dachte immer, Heiler wären dem Gesetz verpflichtete Bürger …«
Er hob die Schultern. »Nun ja, ich war nicht immer Heiler. Und die Wilderei hab ich erst in letzter Zeit für mich entdeckt. Wie dem auch sei: Das meiste hier ist für den Kampf ungeeignet, aber da sollte auch das eine oder andere Messer dabei sein, vielleicht sogar ein Schwert.«
Und tatsächlich, im Geheimraum fand sich ein Schwert, allerdings schwerer als alles, was Rialla jemals in Händen gehalten hatte, aber es würde gehen. Auch musste sie sich einen von Tris’ Gürteln ausleihen, damit sie sich überhaupt mit der Waffe ausrüsten konnte. Eine Weile kämpfte sie mit dem geflochtenen Leder, bis sie sich den Gurt schließlich zweimal um die Hüfte schlang. Das ganze Schwertgehänge saß nun eigentlich zu hoch, um die Waffe schnell ziehen zu können, aber sie konnte es sich nicht leisten, hier kleinlich zu sein.
Sie borgte sich auch eine dunkle Tunika und ein Paar unauffällige Hosen aus, denn ihre Sklavenkleidung war zu hell für die anstehende Aufgabe. Und obwohl alles viel zu groß war und sie den Stoff hier und da mit Schnüren sowie Tris’ Gürtel an Ort und Stelle halten musste, mochte diese Aufmachung ihren Ansprüchen genügen.
Tris nahm aus dem Geheimraum einen knorrigen Stab für sich, der an beiden Enden mit Metall verstärkt war, und verschloss dann wieder die Öffnung in der Holzwand. Und obwohl sie wusste, dass da einmal eine Tür gewesen war, konnte Rialla deren Umrisse in der Vertäfelung nirgends mehr entdecken.
Zusammen mit Tris verließ sie die Hütte, während Marri allein im Schlafraum zurückblieb.
Der Vorraum der Hütte, der gleichzeitig als des Heilers Arbeitszimmer diente, war so prächtig, wie das Schlafzimmer spartanisch war. In die drei Außenwände waren große Fenster eingelassen worden, die das gedämpfte Mondlicht hereinließen. An jedem freien Stellplatz standen Regale unterschiedlichster Größe, in denen sorgfältig beschriftete Ton- und Holzbehälter untergebracht waren. Bündelweise hingen so viele Pflanzen und Kräuter von der Decke, dass man sich fast wie im Dschungel fühlte, und Tris musste den Kopf einziehen, als er durch den Raum ging.
Vor der Tür geleitete Tris Rialla hinter die Hütte in den angrenzenden Wald. »Hier gibt es einen Pfad, der bis zur Feste reicht«, erklärte er knapp.
Rialla konzentrierte sich auf den Weg, bis der Untergrund weniger holprig wurde. »Wie wollt Ihr Laeth da herausbekommen?«, fragte sie.
»Mit Raffinesse und einem Hauch von Magie«, erwiderte er. »Hast du dir was zu den Pferden überlegt?«
Rialla nickte. »Ich werde sie durch das Tor des Herolds herausbringen.«
»Ohne die Wachen aufzuschrecken?«, hakte er nach.
Sie lächelte ihn an. »Ihr erledigt Euren Part, ich kümmere mich um meinen.«
Von da an sprachen sie nicht mehr. Rialla wünschte, sie hätte bei ihrem Besuch auf der Feste überprüft, wo genau in den Stallungen ihre Pferde standen, doch sie war zu sehr damit beschäftigt gewesen, die Sklavin zu spielen.
Sie erreichten die Mauer der Feste, bevor sie bereit war. Hoch ragte sie über ihren Köpfen auf; wieder eine von Karstens Verbesserungsmaßnahmen. Rialla berührte die frisch geschnittenen, blassen Steinblöcke, ertastete die Ecken. Die Mauer war dazu gedacht, einer ganzen Armee standzuhalten, doch sie war noch nicht ganz fertiggestellt. Mithilfe der kleinen Fugen zwischen den Blöcken konnte man sie mühelos auch ohne Leiter erklimmen. Rialla hob die Arme, umklammerte fest die Oberkante eines der Steinquader.
»Warte«, sagte Tris so leise, dass man ihn jenseits der Mauer nicht würde hören können. Dann berührte er sacht ihr Haar und schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, sah er sie aufmerksam an, dann nickte er. Rialla zog sich eine ihrer Haarsträhnen vors Gesicht, um sie in Augenschein zu nehmen, dann ließ sie die nun pechschwarze Mähne wieder über die Schultern fallen.