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Sie schickte beruhigende Gedanken an das Tier, zog es ein wenig zurück und legte ihm die Zügel eng um den Hals, sodass es nicht darauftreten konnte. Obwohl die Stute, im Gegensatz zu dem Wallach, nicht dazu ausgebildet worden war, auf verbale Kommandos zu hören, hielt sie sich instinktiv nah an das andere Pferd.

Rialla hatte es mit der Stute zuerst versucht, weil diese zierlicher gebaut war. Selbst als sie Eisenherz die Steigbügel über den Sattel legte, um die Breite des Tiers einzuschränken, fürchtete sie, dass sein Rumpf an den Seitenwänden des Durchgangs entlangschleifen könnte.

Als sie Eisenherz zum Eingang des Tunnels führte, ließ er den Kopf hängen und schnaubte in Richtung des seltsamen Bodens vor sich. Unter Zuhilfenahme ihrer Empathie und schmeichelnder Worte trat Rialla einen Schritt zurück, zog einmal am Zügel und ließ ihn dann wieder locker.

Vorsichtig setzte der Wallach einen Huf auf das Eisengitter und legte bei dem fremden Geräusch, das dabei entstand, sofort die Ohren an. Wenig hilfreich war dabei auch, dass das Gitter leicht nachgab, doch Rialla hatte ihn gut genug trainiert, und so konnte er darauf vertrauen, dass sie ihm nicht wehtun würde. Eisenherz kam zu dem Schluss, dass der Boden ihn tragen würde, und folgte ihr widerstandslos. Als er aus dem zweiten Durchlass trat, fand er einen Streifen Gras und begann zu fressen.

Rialla befahl ihm, auf sie zu warten, und machte sich wieder auf den Weg durch den Tunnel. Doch noch bevor sie die erste Tür erreicht hatte, schoss die Stute schnaubend und mit klirrenden Hufen an ihr vorbei, um ihren Begleiter auf der anderen Seite zu erreichen.

Eine offenstehende Tür würde sofort Aufmerksamkeit auf sich ziehen, wenn die Wachen wieder zu sich kamen. Wenn sie sie wieder verschloss, konnte es noch bis zum Morgengrauen dauern, bis jemand überhaupt bemerkte, dass Laeth geflohen war. Da traf es sich gut, dass auch an diesem Teil der Mauer noch Arbeiten im Gange waren, sodass das Gerüst an der Außenseite als Fluchthelfer für Rialla dienen konnte.

Also verschloss sie die zweite und auch die erste Eisentür hinter sich, schmuggelte den Schlüsselring wieder in die Tasche der schlafenden Wache und machte sich daran, die Mauer zu überwinden.

Im Gegensatz zu dem Abschnitt, den sie beim Eindringen auf das Burggelände genommen hatte, gab es hier einen frisch errichteten Wehrgang. Der Wachmann, der auf dem neu hochgezogenen Treppenaufgang schlief, bewegte sich unruhig, als Rialla sich ihm näherte. Er war ein Veteran, der während der Pflichtausübung niemals schlief, egal wie ereignislos die Schicht verlief. Sie verstärkte ihre Beeinflussung auf den Mann, um sich mehr Zeit zu verschaffen.

Gerade als sie ihren Schutzschild herunterließ, um den Schlaf noch einmal auf alle anderen Wachen zu projizieren, starb in ihrer Nähe jemand auf eine unerfreuliche, nein, grausame Art und Weise. Rialla versuchte das Ereignis auszublenden, doch es gelang ihr nicht rechtzeitig. Und so vernahm sie noch das Schreien der Wachen im Angesicht des Todeskampfes ihres Kameraden. So viel zur unbemerkten Flucht …

Sie hätte geflucht, wenn sie nur die Zeit dazu gehabt hätte.

Die erste Wache, die aus ihrem Schlummer erwachte und sie angriff, war unerfahren und hielt sie nur kurz auf, während sie auf die Stufen zurannte. Schon sank der junge Mann erneut hin und würde wohl erst morgen mit schlimmen Kopfschmerzen wieder erwachen. Sie hatte die Treppe noch nicht ganz erreicht, da stürmten zwei weitere Männer aus dem Wachhaus. Sie trennten sich, um sie in die Zange zu nehmen – der eine erklomm flink die ersten Stufen zum Wehrgang, um sich aufgrund der Höhe einen Vorteil zu verschaffen. Rialla rannte schnurstracks auf ihn zu, schlug dann unvermittelt einen Haken und duckte sich unter dem Schlag hinweg, den ihr der Mann hinter ihr versetzen wollte.

Nachdem sein Hieb ins Leere gegangen war, geriet der Wachmann ins Straucheln und stolperte unkontrolliert vorwärts. Mit einer anmutigen Rückhand versetzte ihm Rialla mit ihrem Schwertknauf einen Schlag auf den Kopf und drehte sich mit einem strahlenden Lächeln zu dem zweiten Wachmann um, der noch immer auf den ersten Stufen der Treppe stand.

Er hatte offenbar mit einem schnellen Sieg gerechnet und starrte nun einigermaßen fassungslos auf den am Boden liegenden Schemen seines Kameraden. Rasch wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Rialla zu und machte Anstalten, die Treppe wieder hinabzusteigen. Im nächsten Moment lag er am Boden, nachdem sie ihn mit der flachen Seite ihres Schwerts von den Füßen geholt hatte. Ihn musste sie nicht bewusstlos schlagen, das hatte er schon selbst erledigt. Keuchend rannte Rialla die Stufen bis zum Wehrgang hinauf, nur um dort auf den Krieger zu treffen, der sie schon erwartete.

Die ersten drei Männer waren kampfunerfahren und sich nicht bewusst gewesen, gegen wen sie angetreten waren. Dieser Mann jedoch hatte zugesehen, wie sie seine Kameraden erledigt hatte, und erkannt, dass sie eine Sianim-Ausbildung genossen haben musste. Und Rialla brauchte nicht lange, um zu begreifen, dass das auch auf ihn zutraf.

Er war gut, aber sie war besser, doch nicht so viel besser, um hinter ihn zu gelangen und ihn außer Gefecht zu setzen. Etliche Male hätte sie ihn tödlich verwunden können, aber sie konnte sich nicht dazu überwinden, den finalen Schlag auszuführen. Nicht weil sie zimperlich war, sondern weil sie sich noch gut daran erinnern konnte, wie es sich angefühlt hatte, einen Mann zu töten, als ihre Gabe kaum funktionstüchtig war. Bei förmlich heruntergelassenem Empathie-Visier zu morden war daher etwas, das sie lieber nicht ausprobieren wollte.

Wenn sie den hier tötete, bestand die reelle Möglichkeit, dass sie sich dabei gleich mittötete. Schon jetzt hatte sie dank der drei übereifrigen Wachmänner, die hinter ihr im Staub lagen, mörderische Kopfschmerzen.

Der Mann, der jetzt gegen sie kämpfte, wusste genauso gut wie sie, dass sie die bessere Schwertkämpferin war, und sie konnte spüren, wie er darüber nachdachte, was wohl aus seiner Familie wurde, wenn er starb. Seine junge Frau hatte gerade ihr erstes Kind zur Welt gebracht. Um die Witwe eines Wachmanns kümmerte sich kein Mensch, und das bereitete ihm Sorgen.

Sie mochte vielleicht die bessere Schwertkämpferin sein, aber er war der Stärkere, und allmählich machte sich eine tiefe Erschöpfung in ihr breit – vielleicht ein Effekt von Tris’ Heilung, wie er es ja schon vorausgesagt hatte. Wenn sie den Kampf also nicht bald beendete, würde sie ihn am Ende noch verlieren.

Ihre Züge verzerrten sich vor Anspannung, und sie begann, den Wachmann die Stufen hinaufzuzwingen. Während sie kämpfte, griff sie sacht mit ihrer Gabe um sich und erreichte eine Präsenz, von der sie wusste, dass es sich um Tris handelte. Erst später würde sie sich darüber wundern, warum sie ihn einfacher hatte erreichen können als Laeth.

Schweiß rann ihr in den Nacken, und sie befürchtete, nicht genug Ausdauer für das zu haben, was sie nun versuchen wollte. Der Wachmann erreichte den oberen Treppenabsatz, stolperte, als er auf die nächste Stufe treten wollte, die es indes gar nicht gab. Rasch fing er sich, doch sein Straucheln gab Rialla den erwarteten Vorteil, sodass nun beide auf der Festungsmauer standen. Die hölzernen Planken des Wehrgangs knarzten unter ihren Füßen. Wenn sie noch lange gegeneinander kämpften, würde irgendjemand nach oben sehen und sie entdecken.

Ängstlich wartete sie darauf, dass Tris die Feste verließ, und bemerkte gleichzeitig, dass ihr verwundetes Bein allmählich erste Ausfallerscheinungen zeigte. Ihr Schwertarm schmerzte unter den angeblockten Schlägen des Wachmanns. Er schien Hoffnung zu schöpfen, den anbrechenden Tag doch noch zu erleben, obwohl er sich fragte, warum sie ihn nicht erledigt hatte, als er auf der Treppe ins Straucheln geraten war. Die Brustwehr war mit Zinnen versehen, damit Bogenschützen durch die Scharten schießen und sich danach hinter den gemauerten Aufsätzen verstecken konnten. Und obwohl die Mauerbrüstung ein gutes Stück über Riallas Kopf hinausreichte, waren die Scharten nur hüfthoch. Als sie wusste, dass Tris sicher aus der Burg heraus war – mit hoffentlich Laeth an seiner Seite –, täuschte Rialla ihren Gegner. Die Wache machte einen Rückzieher und verschaffte ihr so den Platz, den sie brauchte, um in das Zinnenfenster zu springen und sich auf der anderen Seite herabfallen zu lassen. Sie landete auf der abschüssigen Wehrplattform.