Er wusste nicht, ob sie den Köder geschluckt hatte, also fuhr er fort, um ihr Zeit zu geben, darüber nachzudenken. »Seltsamerweise ist es diese letzte Gesetzesänderung, welche die Darraner am anstößigsten finden. Die Sklavenhaltung ist für ihre Wirtschaft nicht entscheidend; Sklaven gelten vielmehr als Luxus, den sich ohnehin nur die wenigsten leisten können, aber sie sind wesentlich für Darrans kulturelles Selbstverständnis. Die meisten Ratsmitglieder besitzen gleich mehrere und sind mithin wenig geneigt, sich von ihnen zu trennen. Du, dessen bin ich mir sicher, wirst das alles viel besser verstehen als ich.«
Die ehemalige Sklavin beugte kurz ihr Haupt, dann schaute sie ihren Gesprächspartner wieder an. Ren hatte auf eine Reaktion gewartet, und nun sollte er sie bekommen. »Wisst Ihr eigentlich, was Ihr da von mir verlangt, Meisterspion?«
»Ja«, erwiderte er. »Mit deiner Hilfe könnte es gelingen, die Sklaverei in Darran abzuschaffen. Laeth meinte, dass du an einer solchen Mission interessiert sein könntest.«
Die Anspannung verließ ihren Körper so plötzlich, wie sie gekommen war. Mit matter Stimme sagte Rialla: »Berichtet mir in groben Zügen von Eurem Plan und gebt mir dann die Zeit, mir die Sache in Ruhe zu überlegen.«
Ren verschränkte die Arme vor der Brust, zufrieden, dass sein Plan aufgegangen war. »Nun, die einflussreichsten Adligen des Landes samt ihrem Gefolge werden auf Westholdt zugegen sein. Selbstredend werden sie dort nicht über ihren nächsten Attentatsversuch auf Lord Karsten plaudern. Ich möchte, dass du herausfindest, wer die Allianz befürwortet, wer sie ablehnt und – am wichtigsten – warum. Keine Sorge, selbst die unbedeutendsten Informationen, die unschuldigsten Äußerungen sind dazu geeignet, Licht ins Dunkel zu bringen, sofern man sie mit Gespür und Verstand miteinander verknüpft.«
Rialla rieb die Narbe auf ihrer Wange, als plage sie dort ein fortdauernder Schmerz, und fragte: »Seid Ihr sicher, dass Laeth diesen Plan gutheißt? Obwohl er sich für ein Leben in Sianim entschieden hat, ist er doch immer noch Darraner. Spionage beziehungsweise einen Spion in den Dunstkreis seines Bruders einzuschleusen, das muss für ihn mit der schlimmste Verrat sein.«
Ren nickte. »Er hat zugestimmt, weil Lord Karstens Leben bedroht ist.«
»Wann würden wir aufbrechen?«
»In fünf Tagen.«
Sie nickte und stand auf. »Ich werde Euch meine Antwort morgen früh mitteilen.« Leise schloss sich hinter ihr die Tür, als sie den Raum verließ.
Wie betäubt machte sich Rialla auf den Weg durch die belebten Straßen ihrer neuen Heimat. Sie erreichte die städtischen Ställe, wo die Kriegspferde, neben Söldnerdiensten und -ausbildung Sianims zweite Einnahmequelle, untergebracht waren. Sie durchquerte den alten Steintorbogen, der in die Stallungen führte, und genoss den vertrauten Geruch der Pferde, die sich friedlich in ihren Verschlägen bewegten. Es war Zeit für das Mittagessen, und so hatte sie diesen Ort ganz für sich allein.
Sie ignorierte die freundlich über die Boxentüren gesteckten Schnauzen, fand eine Bank, die nicht restlos vollgepackt war mit Zaumzeug und Wurzelbürsten, und kauerte sich mit angezogenen Beinen darauf. Erschöpft ließ sie sich gegen die Wand sinken.
Der graue Stein war kalt an ihrer Wange. Sie schloss die Augen und dachte darüber nach, worum Ren sie gebeten hatte. Allein bei der Vorstellung, wieder nach Darran zurückzukehren, brach ihr der kalte Schweiß aus. Darran hatte ihr die Familie genommen, ihr Erbe und auch einen großen Teil ihrer selbst. Und am Ende hatte es sie vernarbt zurückgelassen, innen wie außen.
Vielleicht wäre dieses Schicksal einfacher zu ertragen gewesen für jemanden, der in einer streng hierarchischen Gesellschaft aufgewachsen war, wo Frauen wenig Einfluss auf ihr persönliches Schicksal hatten. Doch sie war in einen der fahrenden Kaufmannsclans hineingeboren worden, die Handel treibend durch den Süden zogen, genauer gesagt durch den Südwald, Ynstrah und die kleinen Fürstentümer, welche die Anthran-Allianz bildeten. In den Kaufmannsclans galten die Frauen als überaus einflussreich, denn sie kontrollierten die Finanzen der Sippe und entschieden, wohin die nächste Reise ging.
Rialla hatte das Trainieren von Pferden von ihrem Vater erlernt. Die Pferde, die er ausgebildet hatte, waren sehr begehrt, da er ein einzigartiges Gespür für die Tiere besessen hatte. Oft hatte er Vorführungen arrangiert, auf denen er störrische und wilde Biester in brauchbare Pferde verwandelte. Seine besondere Gabe hatte dem kleinen Clan zu großem Ruhm verholfen, sodass sich ihre Leute um Geld keine Sorgen hatten machen müssen, und sie hatten als Händler Gebiete betreten dürfen, die anderen Clans verwehrt gewesen waren.
Rialla war als Empathin geboren worden und mithin imstande, die Gefühle und manchmal auch die Gedanken der Menschen und Tiere um sie herum zu empfangen. Ein seltenes Talent, aber bei ihrem Volk durchaus nicht ungewöhnlich, und ein Talent, das hoch geschätzt wurde unter Menschen, die absolut aufeinander angewiesen waren. Kurz nachdem ihre Gabe erkannt worden war, ließ ihr Vater sie mit den Pferden arbeiten und nutzte ihre Empathie dazu, seine Ausbildungserfolge noch zu verbessern. Gleichzeitig erlernte Rialla auf diese Weise, ihre Fähigkeit zu beherrschen.
Aufgrund ihres hohen Werts für den Handelsclan arrangierten der Frauenrat und ihr Vater eine Ehe mit dem Mitglied eines noch wohlhabenderen Clans. Und dann war während der Verlobungsfeier dieser Fremde bei ihnen aufgetaucht. An seiner Anwesenheit war zunächst nichts Ungewöhnliches gewesen, weil bei einem solchen Ereignis jeder willkommen war, auch Nicht-Clanangehörige. Der Grund, warum Rialla überhaupt auf ihn aufmerksam wurde, bestand darin, dass er einer der wenigen Personen war, die sie nicht empathisch erfassen konnte. Zwar konnte sie sich heute nicht mehr an sein Gesicht erinnern, aber sie wusste, dass sie ihn damals als gutaussehend wahrgenommen hatte.
Nach der Verlobungsfeier trennten sich die Clans, um erneut auf Handelsreise zu gehen, und verabredeten, dass man sich in genau einem Jahr wieder am gleichen Ort zusammenfinden würde, damit die Hochzeit gefeiert werden konnte. So war es Brauch.
Zwei Tage später dann wurde Rialla von den Sklavenhändlern überwältigt, nachdem man alle Männer und älteren Personen ihres Clans getötet hatte. Die jungen Frauen und Kinder ihrer Sippe wurden gefangengenommen. Es stellte sich heraus, dass der Fremde, der auf ihrer Verlobung erschienen war, die Sklavenhändler-Bande anführte. Noch immer konnte sie die Berührung seiner Hand auf ihrem Gesicht spüren. Und es war das erste Mal, dass sie ihn mithilfe ihrer Gabe zu lesen vermochte. Wie auch ihre erste Begegnung mit einen darranischen Sklavenabrichter.
Rialla zitterte heftig an der kalten Granitwand der Stallungen und ignorierte die Tränen, die ihr über die Wangen liefen. Wenn sie sich für Sianim als darranische Sklavin ausgeben sollte, musste sie sich ihrer Vergangenheit stellen.
Trotz all der Jahre war das Antlitz des Sklavenschinders in ihrer Erinnerung verschwommen – ein Unfreier sah seinem Gegenüber nicht oft ins Gesicht –, aber seine Stimme verfolgte sie bis in ihre Albträume hinein.
Am dritten Tag nach ihrer Gefangennahme hatte sich Rialla mit den anderen Frauen und Kindern in einer Ecke des Lagers zusammengedrängt, als ein Reiter sich der Gruppe näherte. Er wurde von ihrem Häscher herzlich begrüßt. Sie konnte die Sprache, in der sich die beiden unterhielten, nicht verstehen, aber der Name des Reiters sagte ihr etwas: Es war Geoffrey ae’Magi, der Erzmagier.
Später erfuhr Rialla, dass der Erzmagier kurz nach diesem Besuch getötet worden war; es tat ihr kein bisschen leid.