Tris lächelte und legte den Kopf schief, als er sagte: »Tja, zu dumm aber auch, dann müsst Ihr sie wohl mit Euch nach Sianim nehmen.«
Laeth sah den Heiler einen Moment lang schweigend an, dann grinste er ebenfalls. »Ein wahrer Jammer, nicht wahr? Das arme Mädchen …« Er straffte sich, und sein Blick wurde wieder ernster. »Sollten wir nicht weitergehen? Könnte gut sein, dass die von der Feste im Dorf eine Suche von Tür zu Tür einleiten. Soweit ich mich erinnere, wird das immer als Erstes gemacht, wenn jemand aus dem Gefangenenturm entkommt.«
»Sie werden damit bis zum Morgengrauen warten. Bei Nacht übersieht man allzu leicht jemanden, der sich in den Schatten verbirgt«, meinte Tris, erhob sich jedoch trotzdem und setzte hinzu: »Ich könnte mir aber vorstellen, dass sie vor Sorge schon ganz krank ist. Sollen wir also aufbrechen und sie aus dieser Ungewissheit erlösen?«
Als die beiden Männer die Hütte erreichten, war kein Lebenszeichen wahrzunehmen, mit Ausnahme von Tris’ Wallach, der friedlich in seinem Stall döste.
Vorsichtig öffnete der Heiler die Tür und schlüpfte in den Vorraum, dicht gefolgt von Laeth. Das fahle Licht des abnehmenden Mondes erhellte gespenstisch Laeths ramponiertes Gesicht.
Ein kurzes Keuchen war die einzige Warnung, die der seiner Hinrichtung Entronnene bekam, bevor sich ein Schemen über den Verkaufstresen schwang und so hart gegen ihn prallte, dass er zurücktaumelte. Irgendwie musste Laeth die Stimme dennoch erkannt haben, weil er den Angreifer nun an den Schultern packte und von sich wegstieß, wobei er gleichzeitig Tris’ Stabhieb mit der Schulter von dem Widersacher ablenkte.
»Autsch, verdammt!«, rief er, »und ich dachte immer, Zauberer könnten im Dunkeln sehen. Es ist doch nur Marri!«
Als er sicher sein konnte, dass keine weiteren Attacken mehr folgen würden, wandte er sich an die Lady. »Beim Herrn des Todes und all seiner Gesandten, Marri! Ist dir wirklich nichts Besseres eingefallen, als dich auf jemanden zu stürzen, noch bevor du dich ihm zu erkennen gegeben hast? Hätte der Stab des Heilers sein Ziel getroffen, hätte er dir das wenige Hirn, das du besitzt, mit einem Schlag aus dem Schädel gedroschen. So hat er mir bloß das Schulterblatt zertrümmert …«
Laeths Ärger wäre überzeugender gewesen, hätte er während der Schimpftirade die schluchzende Frau nicht an sich gedrückt und ihr liebevoll übers Haar gestreichelt. Schon wurde seine Stimme um einiges weicher, als er hinzufügte: »Es ist ja gut, mein Herz. So beruhige dich doch. Ich bin nun sicher, und du bist es auch.« Es blickte auf, um etwas zu dem Heiler zu sagen, doch Tris hatte sich bereits taktvoll in seinen Schlafraum zurückgezogen.
Die Alarmglocken der Feste noch im Ohr, lenkte Rialla die Pferde auf den Hauptweg, auf dem die Wachen in jedem Fall ihre Spuren wiederfinden würden. Sie ritt auf Eisenherz und führte die Stute mit sich, verfiel dann für einige Stunden in einen zügigen Trott.
Als der Abzweig nach Tallonwald in Sicht kam, ließ sie diesen links liegen und ritt weiter, bis sie einen Trampelpfad erreichte, der in die genau entgegengesetzte Richtung führte und auf dem ihre Spuren gleichermaßen zu entdecken sein würden. Es galt auf jeden Fall zu verhindern, dass die Dörfler und ihr Heiler mit ihrer Tat in Zusammenhang gebracht werden konnten.
Zudem wusste sie nicht, in welcher Verfassung sich Laeth befand. Es war möglich, dass er nicht aus eigener Kraft laufen konnte. Indem sie die Wachen in die Irre führte, konnte sie vielleicht ein wenig Zeit für Tris herausschlagen, der Laeth zu seiner Hütte bringen sollte.
Gerade als sie auf die Straße einbiegen wollte, hörte sie das Donnern einer berittenen Gruppe, die rasch den von ihr hergestellten Abstand wieder aufholte. Rialla verband die Zügel der Stute mit ihrem Pferd, damit sie ohne besondere Führung folgen konnte.
Als sie sich nach vorne beugte, um Eisenherz zu einer schnelleren Gangart anzutreiben, erwiderte der falbfarbene Wallach diese Anweisung, indem er den Hals streckte und in einen harten Galopp wechselte, den die schwerer beladenen und weniger gut ausgebildeten Pferde der Wachen nicht lange würden durchhalten können. Obwohl nicht aus so edler Zucht wie Eisenherz stammend und trotz der Tatsache, dass sie ohne Führungsleine und Reiter auskommen musste, folgte ihnen die Stute ohne Probleme.
Als hinter ihnen ein Jagdhorn ertönte, wusste Rialla, dass die Wachen sie entdeckt hatten. Sie stellte sicher, stets in Sichtweite zu ihnen zu bleiben, wollte, dass man ihr nachsetzte, anstatt die Suche aufs Umland auszudehnen, wo sie vielleicht auf Tris und Laeth stießen.
Als die Pferde der Wachleute die ersten Ermüdungserscheinungen zeigten, wurde auch Rialla auf Eisenherz langsamer und verschaffte ihren Pferden so eine wohlverdiente Verschnaufpause. Sie führte den Wallach auf einen schmalen Wildpfad und hinein in die dichten Wälder. Dort entspannte sie sich ein wenig, sank tiefer in den Sattel, um Rücken und Beine ein wenig zu entlasten. Immer wieder sah sie nach hinten, um sicherzustellen, dass die Wachen nicht zu weit zurückfielen.
Der Pfad machte eine scharfe Biegung, führte dann vorbei an geschlossenem Buschwerk und über ein kleines Bächlein hinweg. Wieder sah sich Rialla über die Schulter nach ihren Verfolgern um, als ihr Pferd durchs Unterholz brach und auf eine weite Aue hinaustrat.
Und am anderen Ende des flachen Geländes erwartete sie bereits eine weitere Gruppe von berittenen Wachleuten.
Mit einigen überraschten Rufen verfielen die Männer vor ihr sogleich in einen schnellen Galopp, und Rialla riss ihr Pferd scharf nach links herum. Dann erhob sie sich aus dem Sattel und beugte sich vor, während Eisenherz über die Lichtung jagte und geradewegs ins angrenzende Buschwerk hineinpreschte. Die treue kleine Stute folgte ihnen klaglos.
Rialla fand, dass sie Tris nun genug Zeit verschafft hatte, und beschloss, ihre Verfolger abzuschütteln – wenn es ihr denn gelang. Immerhin saß die neue Gruppe von Berittenen auf ausgeruhten Pferden, und ihre beiden hatten schon eine teils wilde Flucht hinter sich. Eisenherz’ Nacken war schon scheißnass, doch sowohl er als auch die Stute bewegten sich noch leichtfüßig voran.
Sie konnte die Männer hinter sich fluchen hören, wie sie sich durch das dichte Unterholz kämpften. Rialla hatte ihnen die Verfolgung zwar unfreiwillig erleichtert, indem ihre Pferde das hinderliche Gestrüpp bereits niedergetrampelt hatten, doch es waren zu viele von ihnen. Denn sie zogen es vor, sich im Pulk durch das Dickicht zu drängen, anstatt die vorhandenen Schneisen in rascher Aufeinanderfolge zu nutzen.
Die meisten ihrer Häscher fielen zurück, doch es gab auch einige sehr entschlossene darunter. Mindestens einer von ihnen saß so gewandt im Sattel wie Rialla – vermutlich ein Adliger, der sich die Langeweile damit vertrieb, indem er Verbrecher jagte.
Plötzlich knickte Eisenherz im unwegsamen Gelände ein und fiel auf die Knie, doch er rappelte sich schnell wieder auf. Rialla konnte nicht feststellen, dass er lahmte, also blieb sie im Sattel. Es war immer noch Zeit genug, die Pferde zu wechseln, wenn er wirklich müde wurde.
Sie brachen durch das letzte Unterholz und fanden sich auf einer vielgenutzten Straße wieder. Rialla wechselte in einen Trott und überprüfte, ob sie noch verfolgt wurde.
Der Adlige war ihr noch immer auf den Fersen, doch außer ihm war niemand mehr zu sehen. Sie drehte den Wallach im Kreis und in Richtung einer Steinmauer, die die Straße begrenzte. Gleichzeitig hoffte sie, dass der abnehmende Mond genug Licht spendete, damit die Pferde das Hindernis überspringen konnten.
Rialla hatte in Sianim viel Zeit und Sorgfalt auf die Auswahl der Pferde gelegt, mit denen sie und Laeth nach Westholdt reisen wollten. Es waren mit Getreide gefütterte, kampfbereite Tiere, geschmeidig und stark zugleich, wie es nur tägliche Ausritte bewirken konnten. Rialla war dankbar dafür, als der Wallach die Mauer schnaubend übersprang und die Stute ihm kurz darauf folgte.