»Das dachte ich auch«, stimmte sie ihm stattdessen zu. »Aber es ist nicht irgendein Invasionsheer. Wir reden hier von einer Armee, die sämtliche Völker des Ostens in weniger als zehn Jahren erobert und unterworfen hat. Ihr Anführer ist ein Mann, der sich selbst Stimme von Altis nennt, und die Verbreitung seines Glaubens schreitet schneller voran, als seine Soldaten vorrücken können. Der Meisterspion denkt, die einzige Chance, den Einmarsch zu stoppen, bestehe darin, dass sich alle Reiche des Westens gegen die Stimme zusammenschließen. Und Ren hat die hässliche Angewohnheit, bei solchen Dingen meist recht zu behalten.«
»Also unterstützt er das Bündnis zwischen Reth und Darran«, schlussfolgerte Tris.
Rialla nickte und fuhr fort. »Nichts von alledem hätte viel Bedeutung für meine Mission auf Westholdt – mit Ausnahme einer Sache: Die Menschen des Ostens glaubten bekanntlich längst nicht mehr an Magie. So lange ist es her, dass unter ihnen Zauberer gelebt und ihre Kunst ausgeübt haben, dass sie sämtliche Geschichten rund um Magie als Ammenmärchen abtaten.
Die ›Wunder‹ aber, welche die Stimme als Prophet des alten Gottes Bär vollbringt, zeigen frappierende Ähnlichkeiten zu dem, wozu ein geschulter Magier fähig ist. Der Meisterspion glaubt daher, dass es sich bei der Stimme nur um einen höchst begabten Zauberkundigen von diesseits des Großen Sumpfes handeln kann.« Rialla sah Tris nun direkt in die Augen. »Und ich glaube, ich hab ihn gefunden.«
»Winterseine«, sagte Tris.
Sie nickte. »Und wenn meine Vermutung zutrifft, dann kann man diese unheilvolle Invasion vielleicht gleich mit verhindern. Laeth und ich haben viele Übereinstimmungen zwischen Winterseine und diesem selbsternannten Propheten entdeckt. Und selbst wenn er nicht die Stimme von Altis ist, weiß er höchstwahrscheinlich, um wen es sich dabei handelt.«
»Ich komme mit dir«, sagte Tris ruhig, während er seine Schlange auf das Feld neben ihrem Frosch stellte.
Bei den Göttern, dachte sie, ich wünschte, ich könnte sein Angebot annehmen. Wünschte, ich hätte jemanden an meiner Seite, dem ich vertrauen könnte. Wünschte, ich wäre bei all dem nicht allein …
»Nein«, sagte sie schließlich mit fester Stimme und brachte ihren Vogel in Position zu seiner Schlange, die im Begriff war, ihren Frosch zu fressen.
»Tut mir leid, aber da hast du nichts mitzureden«, sagte er entschieden, als er seine Schlange aus der Gefahrenzone brachte und dabei ihren Hirschbock schlug.
»Und was wird aus dem Handel, den du mit dieser alten Frau geschlossen hast?«, fragte sie.
»Ich praktiziere meine Kunst in Tallonwald nun schon über zwei Jahre«, sagte er. »Ausgemacht war aber nur ein Jahr.«
Sie öffnete den Mund, um etwas einzuwenden, doch dann sah sie die wilde Entschlossenheit in seinen Augen. »Verdammt, Tris, warum tust du das alles?«
Er schenkte ihr ein mysteriöses Lächeln, und ihr wurde einmal mehr klar, dass er kein Mensch war. »Wie ich dir erzählte, hat die Frau, die mich rettete, die Gabe, Dinge zu sehen, die anderen verborgen bleiben. Und sie sagte mir, dass ich dir bei deiner Aufgabe helfen solle.«
»Sie sagte dir, du sollst mir helfen, und so tust du es eben?«, fragte Rialla ungläubig.
»So einfach ist’s nun auch nicht. Die Zukunft ist nicht unabänderlich, Rialla. Trenna offenbarte mir ein Ziel, gewährte mir einen Blick auf das mögliche Ergebnis einer Handlung. Genug, um mich davon zu überzeugen, dass dieses Ziel der Mühe wert ist.«
»Du willst mir also nicht sagen, warum du das alles machst, stimmt’s?« Ihr Blick war ein wenig anklagend, aber ihr Ton milde.
»Gewiss doch«, sagte Tris. »Wie ich Laeth schon sagte, lasse ich die erste Person, die mich nach langer Zeit in ›Drachenraub‹ zu schlagen vermochte, nur ungern wieder ziehen. Du bist dran.«
Überrascht schaute sie hinab auf das Spielbrett. »Ich dachte, ich hätte meinen Zug gerade erst gemacht. Hast wohl nicht aufgepasst, was?«
Er wandte seinen Blick nicht von ihrem Gesicht ab. »Das habe ich durchaus. Du bist dran.«
Sie hob die Schultern und meinte: »Ich verzichte auf meinen Zug.«
Er schüttelte den Kopf. »Das hast du schon vor fünf Zügen getan. Man kann aber nur alle sechs Züge passen. Du bist dran.«
Sie lächelte, bewegte ihren Sperling zwei Felder nach rechts. »Also gut – Drachenraub.«
Tris starrte auf das Brett. Ihr Sperling besetzte das Feld, auf dem sein Drache stand.
Als sie seinen übertrieben fassungslosen Gesichtsausdruck sah, rief sie: »Nun komm, ich hab dir doch gesagt, dass ich nicht am Zug bin, doch du hast darauf bestanden und mich damit förmlich zu diesem Manöver genötigt.«
»Wohin bist du noch mal gezogen, nachdem ich deinen Hirschbock geschlagen habe?«
Sie schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln. »Auf das Feld deines Drachen.«
Er lachte und riss kapitulierend die Hände in die Höhe. »Ja, ja, Drachenraub. Schon gut, du hast gewonnen.«
»Wurde auch Zeit«, meinte sie finster und half ihm dabei, die Spielsteine wieder in der Schublade zu verstauen.
»Jetzt schuldest du mir nur noch zwei Königreiche, fünf Pferde und zwölf Schweine.«
»Vier Pferde!«, gab sie hitzig zurück.
»Nein, fünf«, beharrte er. »Du hast fünf Pferde gegen die zwölf Schweine gesetzt, die du in der Partie davor verloren hattest. Eigentlich sollten es sechs Pferde sein, aber wegen deiner Jammerei hab ich mich erweichen und auf fünf runterhandeln lassen.«
»Nun denn«, meinte sie, »immerhin hab ich meine fünfzig Hühner wieder zurück …«
Er wollte gerade etwas darauf erwidern, da vernahmen sie, wie sich die Eingangstür öffnete, bevor das Weinen eines kleinen Kindes den Heiler an seine Pflichten erinnerte.
Allein im Schlafzimmer ihres Gastgebers zupfte Rialla geistesabwesend an der Stickerei der Tagesdecke herum. Die Woche war viel zu schnell vergangen, und ihre Verletzung war fast verheilt. Heute Morgen hatte Tris die Fäden gezogen. Das Bein schmerzte noch immer, wenn sie es zu stark belastete, aber es wurde von Tag zu Tag besser. Morgen früh würde sie mit Lord Winterseine von hier aufbrechen.
Vielleicht, so dachte sie, war es besser, wenn sie so bald wie möglich von hier verschwand. Je mehr Zeit sie mit dem Heiler verbrachte, umso schwerer würde es ihr fallen, in die Unfreiheit zurückzukehren – und zu überleben. Sie musste wieder zur Sklavin werden und die Rolle der Pferdeausbilderin aus Sianim ablegen, die nur eine Sklavin spielte.
Sie hob die Hand an ihr Gesicht, spürte die Narbe unter der optischen Illusion. Die Tätowierung konnte sie nicht ertasten, aber sie wusste, dass sie da war – von der Nase bis zum Ohr, vom Unterkiefer bis zum Wangenknochen. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass auch ihre Seele solchermaßen gezeichnet worden war, dass sie nie wieder etwas anderes würde sein können als eine Sklavin.
Sie wurde aus ihrem Anflug von Selbstmitleid gerissen, als sie eine laute, verärgerte Stimme hörte, gefolgt von den beruhigen Worten des Heilers. Die Eingangstür wurde knallend zugeworfen, dann kam Tris düster dreinblickend ins Schlafzimmer zurück.
»Was ist denn los?«, wollte sie wissen.
Sein Blick verfinsterte sich noch mehr. »Ich hab gerade einen gebrochenen Knochen gerichtet. Für den Sohn eines der Bergbauern.«
»Bergbauern?«
»Die Bergbauern bestellen das Land zwischen den Hügeln und im Vorgebirge. Es ist kein guter Boden, und das Ganze wirft deshalb auch nicht viel ab, aber das ist noch lange kein Grund, seinem Sohn den Arm zu brechen. Es vergeht kein Monat, in dem ich nicht eines seiner Kinder behandeln muss, oder die Prellungen und Knochenbrüche seiner Frau. Zweimal hab ich mit ihm darüber gesprochen und ihm heute gesagt, dass ich mich künftig weigern würde, einen seiner Familienangehörigen zu behandeln. Und ich sagte ihm auch, dass ich das nächste Mal, wenn er sich an jemandem vergreift, der schwächer ist als er, dafür sorgen werde, dass er dergleichen nie wieder tun kann.
»Und? Wird er sich das zu Herzen nehmen?«, fragte Rialla, während der Heiler aufgebracht auf und ab lief.