»Nein, er wird ihnen beim nächsten Mal wohl einfach verbieten, mich aufzusuchen. Verdammt, es war dumm von mir, die Beherrschung zu verlieren. Und es tut mir auch leid, dass ich’s vor seinem Sohn getan hab. Der Junge erfährt schon genug Gewalt in seinem Leben, da sollte er nicht auch noch meine Wutausbrüche miterleben.«
»Du wirst hier gebraucht«, sagte Rialla mit weicher Stimme. »Wer wird ihre Brüche schienen und ihre Tiere kurieren, wenn du nicht mehr da bist?«
Er streckte sich, schien seinen Ärger abzustreifen wie einen Umhang, denn als er sie anblickte, war ihm nichts mehr davon anzumerken. »Diese Menschen sind den größten Teil ihres Lebens auch ohne mich zurechtgekommen. Die Mutter des Dorfältesten ist eine passable Heilerin, wie auch ihre neue Schwiegertochter. Ich habe sie bereits wissen lassen, dass ich sie in Kürze verlassen werde.«
Rialla öffnete den Mund, doch er hob eine Hand. »Rialla, wenn ich länger als nötig hier verweile, wird am Ende irgendjemand bemerken, dass ich Magie wirke, und das könnte dem Dorf mehr schaden als das Fehlen eines Heilers. Ich hatte mich ohnehin schon darauf eingestellt, bald zu gehen.«
Tris setzte sich zu ihr auf die Bettkante. »Morgen, wenn Lord Winterseine dich mitnimmt, werde ich euch nachfolgen. Es dürfte ein Kinderspiel sein, einer Gruppe von Menschen, die sich durch die Wälder schlägt, auf den Fersen zu bleiben.«
Rialla begann zu kichern, und Tris schaute sie fragend an.
»Tut mir leid«, sagte sie. »Aber ich hab noch nie jemanden ›Menschen‹ sagen hören, wo er doch eigentlich ›hirnloser, stinkender und unverdaulicher Haufen Abfall aus einem Schweinekoben‹ meint. Das kannst du wirklich gut, weißt du?«
Er verbeugte sich leicht und schenkte ihr das liebenswürdige Lächeln, das er immer aufsetzte, wenn er sie auf besonders hinterhältige Weise in »Drachenraub« ausgetrickst hatte.
»Eine Sache ist noch zu tun, bevor du gehst.« Er griff nach ihrem Ohrring. »Deine Tätowierung ist nicht gut genug geschützt. Wenn Winterseine dir beispielsweise den Ohrring abnimmt, dabei mit der Tätowierung in Berührung kommt und sie versehentlich entfernt, wird er sich sehr wundern.«
Er holte ein kleines, sehr dünnes Stück Ziegenleder aus seiner Gürteltasche. »Das hab ich heute Morgen vom Gerber bekommen.«
Dann schloss er die Augen, summte leise, schlug den Ohrring in das Ziegenleder ein und ließ das kleine Bündel in seiner Faust verschwinden. Nach einer Weile öffnete er die Augen wieder, schüttelte das weiche Lederstück und zeigte es Rialla. Der Ohrring war verschwunden, und die Tätowierung, die ihre Wange bedeckt hatte, bildete sich nun auf dem Lederstück ab.
Er rückte ein bisschen näher an sie heran, presste das Ziegenleder gegen ihr Gesicht. Riallas Wange wurde ganz kalt. Als er die Hände wieder fortnahm, berührte sie die Stelle und ertastete weiche, glatte Haut, wo eigentlich die Narben hätten sein sollen. Die Wange indes fühlte sich immer noch ein bisschen taub an.
»Die Tätowierung?«, fragte sie.
»Ist immer noch auf deinem Gesicht. Ich werde des Nachts, wenn die anderen schlafen, Kontakt zu dir aufnehmen. Du bist zwar eine Empathin, aber du sagtest auch, dass du überdies imstande bist, anderer Menschen Gedanken zu lesen, nicht nur ihre Gefühle zu empfangen. Könntest du auf diese Weise auch Verbindung zu mir aufnehmen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Bei den meisten Leuten klappt es, aber ich kann deine Gefühle nicht mal erfassen, geschweige denn dir auf diesem Wege eine Botschaft zukommen lassen.«
Er hob eine Augenbraue, dann lächelte er auf seltsame Weise. »Nein, natürlich kannst du das nicht.« Er zögerte kurz, dann setzte er hinzu: »Aber ich weiß, wie man dem abhelfen kann.«
Er holte sein Stiefelmesser hervor und betrachtete es eine Weile, bevor er mit dem Daumen über die scharfe Klinge fuhr. Rialla begriff nicht, dass er Magie wirkte, bis er etwas in einer fremden Sprache sagte und ihren Mund mit der kleinen frischen Wunde an seinem Daumen berührte. Unwillkürlich leckte sie die Blutstropfen von ihren Lippen. Es war, als nippte sie an besonders starkem Alkohol; sein Lebenssaft brannte sich förmlich einen Weg in ihren Körper hinein, hinterließ ein Kribbeln in ihren Zehen und Fingerspitzen, verschleierte ihre Sicht.
Bevor sie reagieren konnte, fuhr er mit der Klinge seitlich an ihrem Hals entlang und beugte den Kopf vor. Sie spürte die weiche, schnelle Berührung seiner Lippen und das sanfte Kratzen seines Bartes auf ihrer Haut, bevor er sich wieder zurückzog. Noch einmal berührte er ihren Hals, diesmal mit den Fingern, und schloss den kleinen Schnitt. Sie starrte ihn wortlos an, fasste sich an die Stelle, wo er und sein Messer sie berührt hatten. Die Wunde war vollständig verschwunden.
»So, jetzt versuch es noch einmal«, sagte er, und plötzlich hatte seine Stimme für Rialla einen gänzlich anderen Klang. Sie war irgendwie erfüllt von Magie und Mondlicht, obwohl draußen noch immer die Sonne durch die Bäume schien.
Sie griff mit ihrer Gabe nach ihm, zögernd zunächst, weil unsicher, was seine Magie verändert haben mochte. Anfangs schien es, als wäre alles beim Alten. Wie zuvor konnte sie ihn geistberühren, doch es war, als griffe man mit den Gedanken nach einem festen, unverrückbaren Ding. Sie konnte ihn sehen und doch nicht sehen, was er wirklich war. Behutsam übte sie etwas Druck auf ihn aus, aber er blieb undurchdringlich. Rialla wollte sich gerade wieder von ihm zurückziehen, als sie praktisch aufgesogen wurde.
Es war zu fremd, und es ging zu schnell. Ihr wurde schwindelig. Hin und her gerissen wurde sie zwischen Erinnerungen und Gefühlen, die sie nicht mehr zu unterscheiden vermochte. Sie war es gewohnt, die Emotionen der Menschen aufzugreifen, doch von Tris erreichten sie darüber hinaus auch Erinnerungen, Gedanken und Träume …
Rialla. Seine Stimme hallte allzu mächtig in ihrem Kopf wider, und doch gab sie ihr auch Halt.
Rialla zog sich ein Stück zurück, bis der Kontakt nicht mehr ganz so eng war, bis seine Wärme etwas Wohliges und nichts Verzehrendes mehr hatte. Seine Gedankenstimme kam wohl kontrolliert zum Einsatz, was den Schluss nahelegte, dass er schon früher auf diese Weise kommuniziert hatte.
Rialla war imstande gewesen, ihren Vater auf diese Art zu kontaktieren, aber eine in beide Richtungen verlaufende Verständigung, das war neu für sie. Tris , sagte sie, was hast du getan, dass ich dich nun auf diesem Wege erreichen kann?
Sie empfing einen schwachen Strom diverser Emotionen, die allesamt rasch wieder zurückgezogen wurden, doch zuvor erhaschte sie einen Hauch von Schuld und Aufgeregtheit.
Irgendwann werde ich’s dir erzählen. Kannst du nun Verbindung zu mir aufnehmen?
Zögernd griff sie mit ihrem Talent nach ihm. Jederzeit. Aber ich weiß nicht, wie nah ich dir dafür sein muss. Dennoch scheint es mir leichter zu fallen als bei jedem anderen Gedankendialog, den ich jemals versucht habe.
Wir Sylvaner sprechen auf diese Weise miteinander, erwiderte er.
So?, fragte Rialla überrascht. Sie sandte ihm ein Abbild der Intimität zurück, die mit dieser Form der Verständigung einhergegangen war – all die komplexen Emotionen und Gedanken, die sie aufgriff, während er mit ihr sprach.
Nein, sagte er überrascht, so nicht. Kannst du wirklich all das von mir empfangen?
Sie spürte sein Unbehagen und zog sich noch ein wenig mehr zurück. Die Erinnerung an Laeths Wutausbruch angesichts ihrer empathischen Fähigkeiten war noch frisch. Für gewöhnlich war es kein Problem, dem Ziel ihrer Geistberührung seine Privatsphäre zu lassen, doch Tris’ frei mäandernde Gedanken trafen sie allzu oft unvorbereitet. Schließlich zog sie sich ganz zurück und errichtete ihre Barrieren, bis sein Geist wieder undurchdringlich für sie war.
Tris schenkte ihr einen ganz besonders geheimnisvollen Blick und sagte: »Nun kannst du mich erreichen, wann immer du Hilfe brauchst.«