Sie konnte nicht mehr als schwach nicken, um ihm ihr Einverständnis zu signalisieren. In diesem Moment durchbrach der Ruf einer Frau im Vorraum diesen außergewöhnlich intimen Augenblick, und Rialla war dankbar dafür. Sie brauchte dringend etwas Zeit, um sich darüber klar zu werden, was Tris gerade getan hatte.
Der Morgen dämmerte klar und warm. Rialla saß ruhig wartend da, als Lord Winterseine ihr Refugium betrat. Ihr Gesichtsausdruck war ausdruckslos und änderte sich auch nicht, als der Meister ihr das Ausbildungshalsband anlegte.
Sie zuckte nicht einmal mit der Wimper, als sich die durch Ketten verbundenen Lederfesseln hinter ihrem Rücken um ihre Unterarme schlossen. Eine weitere Kette verband die Fesseln mit ihrem Halsband, was ihre Beweglichkeit zusätzlich einschränkte. Winterseine befestigte eine Lederleine an dem Halsband und führte sie hinaus.
Auf diese Art der Fesselung nicht zu reagieren, fiel ihr leicht. Sie hatte sie schon zuvor erlebt und damit gerechnet, dass Winterseine auf sie zurückgreifen würde. Womit sie nicht gerechnet hatte, waren die heißen Wellen der Wut, die von dem Heiler ausgingen, obwohl er nach außen hin ruhig und beherrscht wirkte. Also so, wie er sich im Umgang mit darranischen Adligen immer verhielt. Sie versuchte, seinen erregten Gemütszustand aus ihrem Geist zu verbannen, damit dieser sie am Ende nicht beeinflusste, aber so leicht war das nicht mehr.
Offensichtlich war der Kanal, den Tris zwischen ihnen gegraben hatte, nicht mehr so ohne Weiteres zuzuschütten. Sie schickte ihm einen Strom beruhigender Gedanken und versuchte dann, ihre emotionale Abgeschiedenheit wiederherzustellen.
Terran half ihr beim Aufsitzen. Selbst unter besten Voraussetzungen war es schwierig, ohne Einsatz der Hände ein Pferd zu besteigen. Und weil Rialla noch immer damit beschäftigt war, sich vor der andauernden Verbindung zu Tris abzuschirmen, war sie für Terrans Hilfe dankbar.
Als sie davonritten, konnte sie spüren, wie der Blick des Heilers sie bis in den Wald hinein verfolgte.
Viele Darraner hatten in den Kriegen mit Reth alles verloren. Sie führten ein Leben als Diebe und Wegelagerer in den Wäldern und raubten die aus, die dumm genug waren, ohne schlagkräftigen Begleitschutz durch die Lande zu reisen. Winterseines Entourage indes war groß genug, um die meisten Banditen abzuschrecken. Außer dem Adligen und seinem Sohn reisten auch eine Hand voll Kämpfer und zwei Diener mit ihnen – darunter derjenige, von dem Rialla annahm, dass er Karsten vergiftet hatte. Tamas war sein Name, wenn sie sich recht erinnerte. Offensichtlich war das dunkelhäutige Mädchen die einzige Sklavin gewesen, welche die Adligen nach Westholdt begleitet hatte, weil es außer Rialla nun keine weiteren Unfreien mehr in Winterseines Gefolge gab.
Vier Mann ritten voraus, gefolgt von Winterseine und seinem Sohn Terran. Dahinter trabten Rialla und die Dienerschaft. Der Rest der Reisegruppe bildete die Nachhut.
Rialla wusste, dass Winterseine ein exzellenter Kämpfer war; nicht zuletzt mit ein Grund für seinen Erfolg als Sklavenhalter. Und wenn sie seinen Sohn so betrachtete, kam sie zu dem Schluss, dass er seinem Vater ebenbürtig war. Zum einen ritt er sein Schlachtross mit einer Leichtigkeit, die viel Erfahrung voraussetzte. Und die Mühelosigkeit, mit der er ihr aufs Pferd geholfen hatte, bewies zum anderen, dass er ziemlich athletisch und kräftig war.
Winterseines Lakai hielt die Führungsleine des Pferdes, auf dem Rialla ritt. Wie auch sie, saß Tamas auf einem einfachen Reitpferd. Er trug keine nennenswerte Waffe bei sich außer einer schweren Peitsche, die an seinem Sattel befestigt war. Doch in Sianim hatte Rialla solche Peitschen im Einsatz gesehen und unterschätzte somit nicht den Schaden, den sie verursachen konnten.
Sie reisten durch den hügeligen Süden Darrans. Allerorten waren die Spuren des letzten Krieges noch zu sehen. Viele der Höfe hatte man erst kürzlich auf den Trümmern ihrer Vorgängergebäude wiedererrichtet, doch es gab auch noch zahlreiche niedergebrannte Gebäude, die nicht wieder aufgebaut worden waren – vermutlich, weil einfach niemand mehr da war, dies zu tun.
Kurz vor Sonnenuntergang machten sie neben einem der im Krieg zerstörten Häuser Rast. Ohne viel Aufhebens wurde ein Nachtlager errichtet. Mithilfe der Leine, die noch immer mit dem Ausbildungshalsband verbunden war, pflockte Winterseine Rialla auf dem Boden nahe des Lagerfeuers an, wo man sie die ganze Nacht über im Auge behalten konnte. Auch löste er die Fesseln an ihren Armen nicht.
Keine dieser Bindungen saß übermäßig fest, doch waren ihre Arme fast den ganzen Tag über in dieser unnatürlichen Position gewesen, sodass ihre Schultern allmählich zu schmerzen begannen. Angesichts dessen und aufgrund ihres immer noch pochenden verletzten Beins bezweifelte Rialla, dass sie eine erholsame Nacht haben würde. Sie hatte also die Wahl, sich entweder in noch würdeloserer Weise mit dem Gesicht nach unten in den Dreck zu rollen, oder ihr ganzes Gewicht auf die hinter ihrem Rücken gefesselten schmerzenden Arme zu legen.
Rialla.
Sie war sich sicher, zusammengezuckt zu sein, doch falls dem so war, so hatte es niemand bemerkt. Sie war einfach nicht an Stimmen in ihrem Kopf gewöhnt … Tris?
Ja, wie geht’s deinem Bein?
Sie drehte und streckte es vorsichtig. Es tut noch weh, aber es ist auch nicht schlimmer geworden.
Gut.
Sie wartete, doch es kam nichts mehr. Mit einem resignierten Seufzer rollte sie sich auf den Bauch. Zu ihrer Überraschung fiel sie sofort in einen befreienden Dämmerschlaf, der die ganze Nacht über andauerte.
Am nächsten Morgen war Terran anderweitig beschäftigt, also wurde Rialla für die Weiterreise von Tamas aufs Pferd gehievt. Sie hatte ihm seit dem Tag ihres Aufbruchs nicht allzu viel Aufmerksamkeit geschenkt, doch dieser unfreiwillige Körperkontakt zwang ihr seine Emotionen und einige seiner Gedanken auf, sodass sie sich danach geradezu beschmutzt vorkam. Es war nicht nur Lust, die er empfand, sondern etwas viel … Gewalttätigeres. Sie begriff, dass sich seine Begierde aus dem Zufügen von Demütigungen und Schmerz nährte. Und selbst, als sie schon längst im Sattel saß, suchte er immer wieder unzählige Vorwände, sie zu berühren.
Am späten Nachmittag zog sich der Himmel zu, und Winterseine beschleunigte das Reisetempo von dem gemächlichen Schritt zu einer zügigeren Gangart, um dem drohenden Unwetter zu entgehen.
Das Pferd, auf dem Rialla saß, verfiel in einen so unruhigen Trab, dass sie um den festen Sitz ihrer Zähne fürchtete und hässliche Kopfschmerzen bekam. Andererseits hatte die schnelle Gangart den Vorteil, dass Tamas’ Aufmerksamkeiten sich fortan auf ein Mindestmaß beschränkten, weshalb Rialla den Höllenritt letzten Endes als Verbesserung ihrer Lage ansah.
Sie beschlossen, die Nacht in einem Kloster zu verbringen, das, Ironie des Schicksals, einst dem Sturmgott geweiht worden war. Die Anhänger der alten Götter mussten sich inzwischen mit den wenigen verbliebenen Tempeln des Reiches, zu denen auch dieser zählte, zufriedengeben. Es war eine wenig kunstvolle Anlage, erbaut aus dem dunklen Stein der Gegend, die aufgrund des Zwielichts und des Unwetters noch trostloser wirkte.
Einige Mönche kamen herbei, um ihre Tiere zu versorgen. Entschlossen schwang Rialla ein Bein über ihren Sattel und rutschte seitlich neben ihrem Pferd zu Boden. Es galt, um jeden Preis Tamas’ »helfenden« Händen zu entgehen.
Der Sturmgott schätzte keine Frauen in seinen heiligen Hallen, doch die Mönche hatten als Zugeständnis an die weltlichen Besucher ein kleines Nebengebäude errichtet, das diesen als Zuflucht dienen konnte und für das sich die Ordensbrüder fürstlich entlohnen ließen. Die Steinhütte wurde stets von außen verriegelt, damit kein weibliches Wesen im Hauptgebäude herumwandern und den Tempel damit entweihen konnte.
Die Unterkunft, so stellte Rialla fest, war kärglich und fensterlos. Wäre sie eine Adlige, so vermutete sie, hätte man ihr wahrscheinlich von irgendwoher eine Pritsche besorgt und diese nach ihrer Abreise verbrannt. Wie die Dinge jedoch standen, musste sie sich mit dem nackten Steinfußboden bescheiden. Viel Zeit blieb nicht, sich in dem Raum umzuschauen, bevor die Tür hinter ihr geschlossen wurde und sie in totaler Finsternis zurückließ. Gleich darauf war das unverwechselbare Geräusch eines Holzbalkens zu hören, der von außen vorgeschoben wurde.