Gut gemacht, bemerkte Tris. Das Pferd einzusetzen, daran hatte ich gar nicht gedacht.
Danke, erwiderte sie schwach, während ihre Stute sich von Tamas’ Pferd entfernte und dabei den Mann, der die Leine hielt, mit sich zog. Ich –
Während ihr Pferd einen weiteren Kreis beschrieb, erhielt Rialla einen guten Blick auf Tamas, der nun den Arm streckte und beugte, den er sich gerade erst gebrochen hatte. Sie überwand ihren Ekel vor dem Mann, griff kurz mit ihrer Gabe nach ihm und stellte fest, dass der einzige Schmerz, den Tamas spürte, von den Verletzungen ausging, die ihm die Dornen zugefügt hatten.
Tris?, fragte sie. Warst du das?
Was meinst du?, fragte er zurück.
Als Tamas abgeworfen wurde, hat er sich den Arm gebrochen. Sie übermittelte Tris ein Bild davon, wie Tamas’ Arm kurz nach dem Sturz ausgesehen hatte. Jemand hat ihn geheilt. Gerade eben. Warst du das?
Nein. Es folgte eine Pause, und dann: Ich bezweifle, dass irgendjemand hier Grüne Magie wirken kann. Wir können einander für gewöhnlich auf Anhieb erkennen. Auch kann ich normalerweise immer feststellen, ob jemand kürzlich Grüne Magie zur Anwendung gebracht hat, aber dergleichen sehe ich hier nicht. Menschenmagier können einen Knochen behandeln, indem sie Magie als eine Art Schiene einsetzen, aber das erfordert sehr viel Macht. Schwache Menschenmagier … Er brach ab und fügte nach einer Weile hinzu. Sag mir, wie stark ist dieser Magier, den du suchst, wirklich?
Er war Schüler des ehemaligen ae’Magi, erwiderte Rialla langsam. Kannst du feststellen, ob ein Menschenmagier Tamas’ Arm geheilt hat?
Ein Menschenmagier kann den Arm nicht heilen, erklärte Tris, er kann ihn, wie ich schon sagte, nur richten. Und er müsste den Zauber auch beständig erneuern. Wenn also der Magier einschliefe, würde der Zauber an Wirkung verlieren. Es sei denn, er hat Runen benutzt, aber das würde ich wissen. Tatsächlich kann ich keine wie auch immer geartete Magie erspüren. Andererseits war der einzige Menschenmagier, mit dem ich je zu tun hatte, Trenna, die alte Frau, die mich in Tallonwald als Heiler angeworben hat. Und sie war nur unzureichend ausgebildet; insofern muss ich sagen: Nein, ich kann nicht sagen, ob ich zweifelsfrei feststellen könnte, dass ein Mensch Magie gewirkt hat.
Rialla grübelte über das eben Gehörte nach. Sie fragte sich, warum Tamas’ gebrochener Arm Winterseine so sehr am Herzen liegen sollte, dass er eine Unmenge an Magie darauf verwendet haben musste, um ihn wiederherzustellen. Und das, wo doch die Einzigen, die er damit beeindrucken konnte, seine eigenen Bediensteten waren. Nein, das alles passte ganz und gar nicht zu ihrem ehemaligen Meister.
Rialla zitterte und zermarterte sich mit wachsendem Unbehagen das Hirn über das Wesen der Magie – menschliche wie Grüne. Über welche Macht mochte da erst der Prophet eines Gottes verfügen?
7
Dunkel, ja, fast bedrohlich ragten die steinernen Mauern und Türme von Lord Winterseines Burg vor der Gruppe der müden Reiter auf. Schwach wurde das Mondlicht von den glänzenden Blättern des Efeus zurückgeworfen, das die Außenwände der Anlage überwucherte, wodurch der Eindruck noch viel unheimlicher wirkte.
Als sie über die Zugbrücke ritten, warf Rialla einen Blick nach unten in den Burggraben, der die Feste umgab. Der war nicht ganz so abstoßend wie anderenorts; Winterseine ließ ihn einmal im Jahr entwässern und reinigen, sodass von ihm nur ein Geruch von Algen und verrottetem Laub aufstieg.
Die alten Planken der Zugbrücke ächzten unter dem Gewicht der Pferde. Die schweren Ketten, mit denen die Brücke einst hochgeklappt werden konnte, hingen nun nutzlos im Schlamm, wo sie vor sich hinrosteten und von Brackwasseralgen erobert wurden.
Der Eingang in den Burghof wurde durch ein schweres Fallgitter geschützt. Soweit Rialla wusste, war die alte Zugbrücke in diesem Jahrhundert noch nicht wieder betätigt worden. Die Burg war nicht groß und ihre Lage strategisch nicht von Bedeutung, weshalb die Rethischen Kriege fast spurlos an ihr vorbeigegangen waren. Nur wenige Banditen hatten es gewagt, es mit den erfahrenen Kämpfern aufzunehmen, die dieser Tage, da der Krieg vorbei war, die Burg bewachten. Darüber hinaus beteiligte sich Winterseine nicht an dem entwürdigenden Gezänk im Rahmen irgendwelcher Fehden, die andere Grundbesitzer und Adlige viel Zeit und Geld kosteten.
Rialla vermochte nicht zu verhindern, dass ihr ein Schauer über den Rücken lief, als sich das schwere Eisengitter wieder hinter ihnen herabsenkte und sie damit praktisch in den Mauern der Burg festhielt. Kurz musste sie den Drang niederkämpfen, sich von ihren Fesseln zu befreien. Stattdessen klammerte sie sich an Tris’ beruhigende Präsenz in dem Wissen, dass er in der Nähe war.
Sie ritten direkt auf den Eingang der Burg zu, wo die Stallburschen sie schon erwarteten, um die erschöpften Pferde zu übernehmen. Während Winterseine und sein Gefolge sich in die Eingangshalle begaben, wurde Rialla von einem der Wachmänner die steinerne Treppe hinab und zu den Sklavenzellen geführt. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass sie Brot, Wasser und Stroh für das Nachtlager hatte, entfernte der Mann die Lederfesseln und ließ sie allein.
Durch ein kleines vergittertes Fenster in Deckenhöhe fiel das Mondlicht. Die Schatten, den die Metallstreben auf den blassen Steinboden warfen, erinnerten sie nun beständig daran, wo sie war. Das Geräusch von Brackwasser, das im Burggraben träge gegen die Außenmauer der Festung plätscherte, drang gedämpft aus dem Latrinenloch, das sich in einer Ecke ihrer Zelle befand, zu ihr herauf.
Rialla sah sich um, und langsam kehrte die Erinnerung wieder zurück. Sie saß in der gleichen Zelle, die man ihr zugeteilt hatte, als sie das erste Mal verschleppt worden war. Wie um sich zu vergewissern, kniete sie sich neben die schwere Holztür und fuhr mit dem Finger über die angrenzende Steinwand. Nach einer Weile ertastete sie die in den Granit geritzten Buchstaben. Es war zu dunkel, um sie zu lesen, aber das musste sie auch nicht – sie wusste ganz genau, was dort stand:
»Isst vah han ona faetha«, rezitierte sie leise und betonte dabei die Worte genau so, wie es schon ihr Vater getan hatte. »Ohne Hoffnung ist alles nichts.«
Bis zum Zeitpunkt ihrer Versklavung waren dies die einzigen geschriebenen Worte, die sie kannte, wiewohl sie mehrere Sprachen beherrschte. Ihr Vater hatte einst eine goldene Scheibe als Medaillon getragen, in die just diese fünf Worte eingraviert gewesen waren. Es war der Wahlspruch ihres Clans gewesen.
»Das ist die Zelle, in der man mich schon das erste Mal eingesperrt hat«, sagte sie ohne aufzusehen, denn sie wusste, dass Tris hinter ihr stand. »Wie bist du hereingekommen?«
»Durch die Wand.«
Rialla sah sich um, betrachtete die massiven Steinmauern, die sie umgaben. Sie hob eine Augenbraue und sah zweifelnd zu Tris auf.
Der zuckte nur die Achseln. »Stein zu durchdringen fällt mir nicht ganz so leicht wie Holz, aber wenn man weiß, wie man ihn darum bitten muss, ist es nicht unmöglich – es geht nur langsamer.«
Sie nickte und kam wieder auf die Füße, nicht zuletzt, weil sie sich am Boden kniend irgendwie verletzlich fühlte. »Ich bin froh, dass du hier bist.«
»Froh, dass ich dir hierher gefolgt bin, oder froh, dass ich dich heute Abend in deiner Zelle aufgesucht habe?«
Sie lächelte. »Eigentlich beides. Ich wollte mit dir über Tamas’ Arm sprechen. Kannst du dir auch nur einen Grund vorstellen, aus dem Winterseine ihn geheilt haben sollte? Ich kann mich nicht erinnern, dass er Magie je so … beiläufig zum Einsatz gebracht hätte.«