Es war nicht einfach, in der dunklen kleinen Zelle viel zu erkennen, doch Rialla sah, wie Tris seinen Arm hob, um sich über den Bart zu streichen.
»Falls er versucht hat, sich als Diener von Altis hervorzutun, dann nur deshalb, um seine Position zu untermauern«, sagte er schließlich nachdenklich.
»Seine Position bei seinen Wachen, einem Diener und einer Sklavin?«, fragte Rialla ungläubig.
»Eben, das ergibt keinen Sinn«, meinte Tris. »Wollte ich etwas über einen Adligen erfahren, wären die Ersten, die ich befragen würde, seine Bediensteten. Falls er sich wirklich zur Stimme von Altis erklärt hat, wären seine Diener längst im Bilde, und er müsste sich vor ihnen nicht mehr beweisen.«
Rialla spürte, wie sie sich angesichts dieser Schlussfolgerung wieder ein wenig entspannte. Allein Winterseine nur gegenüberzustehen, war schon beängstigend genug, da wollte sie sich nicht auch noch wegen irgendwelcher Propheten und Götter Sorgen machen müssen.
»Wo hast du dein Pferd gelassen?«, fragte sie und trat in den Strohballen, sodass er sich ein wenig über den Boden verteilte.
»Welches Pferd?«
»Du hast den ganzen Weg zu Fuß zurückgelegt?«, rief Rialla ungläubig aus und ließ den Blick über den ziemlich muskulösen Körper des Heilers schweifen. Ihrer Erfahrung nach besaßen Läufer nur selten die Statur von Hammerschmieden.
Er lächelte. »Nein. Es gibt im Wald andere Wege, die sich denen erschließen, die wissen, wie man die Türen öffnet.«
»Magie?«, fragte Rialla, die ein Gähnen unterdrücken musste.
Er nickte. »Ganz recht.«
Die Sonne war gerade erst aufgegangen, als zwei Wachmänner die Zelle betraten und Rialla in das verwaiste Arbeitszimmer des Isslic von Winterseine brachten. Dort befestigten sie ihre Leine an einem kunstvollen Bronzering, der an der Wand hing, und ließen sie allein.
Sie setzte sich auf den Boden und lehnte sich gegen die Wand. Auch in diesem Raum war sie schon einmal gewesen. Wann immer die Sklavin sich schlecht benommen hatte, ließ Winterseine sie hierher bringen, um sie eigenhändig zu bestrafen – doch zuvor ließ er sie warten. Immer.
Das Geräusch sich nähernder Schritte riss sie aus ihrem Dämmerschlaf – sie hatte in der letzten Nacht viel zu lange mit Tris gesprochen, anstatt sich auszuruhen. Sie war froh, rechtzeitig wieder erwacht zu sein; was es um jeden Preis zu verhindern galt, war, Winterseine unnötig zu verärgern. Er erwartete eine aufgrund des langen Schmorens nervöse Sklavin, keine verschlafene.
»Nun«, sagte Winterseine, nachdem er den Raum betreten hatte, »schön, dich wiederzuhaben, Tänzerin. Sag, warum bist du überhaupt geflohen? Du hättest dir doch denken können, dass ich dich früher oder später finde.«
»Ja, Meister«, erwiderte Rialla kleinlaut, »das wusste ich. Es tut mir leid, dass ich fortgelaufen bin. Aber ich hatte einfach … Angst.«
»Und wovor hattest du Angst, Kleines?« Wieder war seine Stimme sanft, und er erinnerte Rialla an ein Raubtier, das sich an seine Beute anschlich.
Rialla spürte, wie sich Furcht in ihr Herz schlich, doch es war die Furcht der Sklavin, und sie war freiwillig hier. Der Gedanke tröstete sie. Gerade als sie Winterseine antworten wollte, nahm Tris Kontakt mit ihr auf.
Rialla, wo bist du?
Später!, gab sie schroff zurück und verschloss fest ihren Geist, um seine Präsenz auszuschließen.
Dann sagte sie zögernd zu Winterseine: »Eine der anderen Sklavinnen dort … oben auf den Zimmern in der Schenke in Kentar … sie wurde ermordet in jener Nacht. Ich hab gesehen, wie man ihre Leiche hinausgetragen hat.« Sie machte eine Pause, platzierte die nächsten Worte sorgsam um die Wahrheit herum. »Am Tag zuvor hatte ihr Besitzer den Wirt gefragt, was es ihn kosten würde, mich zu kaufen.«
Rialla wusste, es war allgemein bekannt, dass allein der Gedanke an einen Verkauf jeden Sklaven in Angst und Schrecken versetzte. Das tagtägliche Grauen war berechenbar, doch es konnte bei einem neuen Besitzer durchaus alles noch viel schlimmer kommen. Ein jeder Sklave hatte rasch gelernt, das Unbekannte zu fürchten.
»Also liefest du fort und hast dabei ganz nebenbei auch noch einen von meinen Leuten umgebracht?«
»Er hat mich erschreckt«, erwiderte Rialla mit bebender Stimme, während sie sich an das schreckliche Ereignis erinnerte. »Ich schubste ihn weg von mir, und er schlug mit dem Kopf auf dem Boden auf. Es war dunkel, und ich wusste nicht, wie mir geschah.« Mit einem Holzhammer, den jemand in den Ställen liegengelassen hatte, hatte sie so fest zugeschlagen, wie sie konnte. Den Hammer hatte sie neben der Leiche zurückgelassen und danach das Weite gesucht. Doch Winterseine rechnete damit, dass sie ihn anlog, weshalb sie genau das tat, um ihre Rolle möglichst überzeugend zu spielen.
Winterseine nahm auf dem großen lederbezogenen Stuhl hinter seinem Schreibtisch Platz, der unter seinem Gewicht aufquietschte. »Du hast ihn mit einem Hammer erschlagen.«
Rialla schüttelte den Kopf, tat verängstigt. Eine Sklavin würde ein solches Verbrechen niemals zugeben, und Winterseine wusste das. »Nein«, widersprach sie zaghaft. »Er ist auf den Kopf gefallen.«
»Du hast ihn ermordet«, stellte die Stimme ihres Meisters unerbittlich klar. Er wusste vielleicht, dass sie nicht gestehen würde, aber das änderte für ihn nicht vieclass="underline" Sie musste begreifen, dass sie mit einer Lüge nicht durchkam. Er wartete ihre Antwort nicht ab, fragte stattdessen: »Und wohin bist du dann gegangen?«
Hilflos zuckte Rialla die Achseln. »Ach, ich weiß es nicht. Weg, irgendwohin.« Das kam der Wahrheit recht nahe.
»Laeth behauptete, er hätte dich irgendwo im Süden aufgegriffen. Wie bist du dorthin gelangt?«
»Nach einigen Tagen – ich weiß nicht genau, wie viel Zeit seither vergangen war – fand mich ein Mann, wie ich mich unter einem Busch versteckte. Er nahm mich mit und verkaufte mich an einen Händler, der mich aus Darran hinausschmuggelte und dann an einen Händler abgab, der für die Allianz arbeitete.« Obwohl es verboten war, entflohene Sklaven zu verkaufen, war das gängige Praxis.
»Ich kann es nicht dulden, dass meine Sklaven fortlaufen, Tänzerin.« Winterseines Stimme war streng, doch es schwang auch so etwas wie Bedauern mit, als spräche er zu einem ungezogenen Kind. Rialla musste einen Brechreiz unterdrücken.
»Nein, Herr, das könnt Ihr nicht«, sagte sie leise, und der Sklavenmeister lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, um über die Art ihrer Bestrafung nachzudenken.
Eine Wache führte sie durch ein Labyrinth aus Gängen, bis sie vor zwei Türen ankamen, die nicht breiter als Luken und in Hüfthöhe angebracht waren. Rialla konnte hinter einer von ihnen ein leises Schluchzen wahrnehmen und verfolgte besorgt, wie der Mann den Riegel vor der anderen Tür beiseiteschob. Die Klappe öffnete sich; dahinter lag eine finstere, niedrige Kammer, die sogar noch winziger war, als es die Tür selbst vermuten ließ. Spinnweben hingen vor dem Eingang, die der Wachmann nun aus dem Weg fegte.
»Rein mit dir«, sagte er. Sein Auftreten hatte nichts Bedrohliches, aber Rialla war sich sicher, dass er seinem Befehl im Ernstfall Nachdruck verleihen würde.
So langsam wie möglich krabbelte sie auf Händen und Füßen in den Hohlraum, um möglichen Insekten die Gelegenheit zu geben, sich in Sicherheit zu bringen. Dunkelheit umfing sie, als sie das Ende ihres Gefängnisses erreichte. Der Wachmann schloss hinter ihr die Tür und schob den Riegel vor. Rialla streckte ihre Hände aus, ertastete die Ausmaße ihrer Zelle; sie war nur unwesentlich größer als die Särge, in denen die Darraner ihre Toten unter die Erde brachten.
Für jeden normalen Menschen wäre diese Enge beklemmend gewesen, doch Riallas Wahrnehmung reichte über die sie umgebenden Steinwände hinaus. So wusste sie, wann der Wachmann seinen Posten verließ, um zu Mittag zu essen, und konnte das Grauen fühlen, welches die Sklavin in der Nachbarzelle empfand. Und sie spürte Tris’ Ungeduld, der endlich wissen wollte, was los war.