Rialla!
Ja, antwortete sie.
Geht’s dir gut? Wo bist du?
Sie empfing seine Sorge und schickte ihm beruhigende Gedanken zurück. Ich sitze in … verschärftem Arrest. Aber so schlecht ist es nicht; er musste ja irgendwas unternehmen, um mich zu bestrafen, fügt seinen Sklaven aber keinen körperlichen Schaden zu, wenn es sich vermeiden lässt. Kurz: Ich hatte Schlimmeres erwartet.
Das kann ich nachvollziehen, antwortete Tris. Ich selbst fühle mich ohnehin die meiste Zeit eingesperrt in diesen Steinbauten der Menschen, da würde es mir auch nicht mehr viel ausmachen, an einem noch beengteren Ort ausharren zu müssen. Ich denke, ich werde mich heute ein wenig hier umsehen und mal schauen, was ich rausfinden kann. Ruf mich, wenn du etwas Gesellschaft brauchst.
Wo genau willst du dich denn umsehen?, erkundigte sich Rialla neugierig. Das Gesicht des Heilers war Winterseine und einigen seiner Wachleute bekannt. Wenn ihn jemand dabei erwischte, wie er sich in der Burg herumtrieb, würde das sicherlich einige Fragen aufwerfen.
Die Illusionsmagie ist im Grunde ziemlich simpel, erwiderte Tris, der offenbar keine Schwierigkeiten hatte, ihren Gedanken zu folgen. Kaum einer bemerkt eine überzählige Sitzbank oder eine weitere Zimmerpflanze. Rialla erinnerte sich an die zahlreichen dekorativen Kübelgewächse, die überall in Westholdt herumgestanden hatten, genauso wie die abgenutzten Holzbänke.
Was, wenn sich jemand auf dich setzen will?, fragte sie. Es war ihr noch immer nicht ganz geheuer, dass Tris bereits Gedanken lesen konnte, die sie ihm noch gar nicht geschickt hatte.
Deshalb ziehe ich, wenn möglich, die Zimmerpflanze vor, kam es zurück, allerdings hat die Bank ein morsches Bein. Das sollte jeden abschrecken, es sich auf ihr gemütlich zu machen.
Ich wünsch dir viel Glück, sagte Rialla. Sei vorsichtig.
Das werde ich, versicherte er ihr und zog sich dann auf eine weniger intime Geistebene zurück.
Die Sklavin in der anderen Zelle wurde immer panischer in dem engen dunklen Gefängnis. Aus Mitleid und weil sie ihre Empathie noch ein wenig trainieren wollte, beschloss Rialla, ihrer Mitgefangenen zu helfen.
Geduldig arbeitete sie sich durch die Furcht der anderen Sklavin und sandte ihr Ruhe und Frieden. Nachdem die Angst von ihr abgefallen war, wurde die Frau von einem neuen Gefühl überwältigt: Hass. Die Emotion war klar und stark und vermittelte Rialla ein deutliches Bild vom Ziel ihrer Feindseligkeit: Winterseine. Das wunderte Rialla nicht wirklich.
Unfähig, den Kontakt noch weiter aufrechtzuerhalten, zog sie sich zurück und kämpfte mit den Nachwehen, welche die Furcht und der Hass der anderen Frau bei ihr ausgelöst hatten. Als sie wieder in Einklang mit sich selbst war, sammelte Rialla sich erneut und projizierte ihre eigene Gefasstheit auf die Frau in der Nebenzelle, auf dass diese endlich ein wenig schlafen konnte. Nur allmählich wurde die Frau ruhiger und fiel schließlich in einen leichten Dämmerzustand.
Spät am Nachmittag kam Winterseine in Begleitung von zwei Wachen, um sie wieder herauszuholen. Sie krabbelte aus ihrem Loch und stand mit unbeweglicher Miene da, um sich von ihm inspizieren zu lassen. Der Meister kniff die Augen zusammen, bevor er sie den beiden Wachmännern überließ.
Aufmerksam verfolgte sie, wie er den Riegel vor der Nachbarzelle beiseiteschob, in der die andere Sklavin in ihrem sargähnlichen Gefängnis hockte. Im Zwielicht, das im Gang herrschte, konnte Rialla erkennen, dass die Haut der anderen Frau so dunkel wie geöltes Ebenholz war. Sie besaß fein gemeißelte Gesichtszüge, und das dichte kupferfarbene Haar reichte ihr bis zu den Hüften. Eine weitere Sklavin aus dem Osten also.
Während sich Rialla die Frau genauer ansah, begriff sie, warum Winterseine sie vor einem Moment so argwöhnisch beäugt hatte. Das Gesicht der anderen war genauso ausdruckslos wie ihr eigenes, doch es zeichnete sich auch Erschöpfung darauf ab, und das Haar war stumpf von Schweiß. Ein leichtes Beben ging durch ihren Körper, während sie, wie auch Rialla, versuchte, nichts als Passivität auszustrahlen. Rialla wusste, dass sie selbst nach außen hin wirkte, als hätte sie sich den ganzen Nachmittag auf einem Bett liegend ausgeruht.
»Schafft die beiden zu den Bädern, damit man sie einer Reinigung unterzieht. Danach bringt ihr die Schwarze wieder in den Unterricht im Blauen Zimmer. Die Tänzerin soll zurück in ihre Zelle«, befahl Winterseine knapp, woraufhin die Wachen die Frauen fortbrachten.
Gekleidet in eine saubere Tunika und mit frisch gewaschenem Haar fand sich Rialla wenig später in ihrer alten Zelle wieder. Ein Mahl aus Brot und Obst erwartete sie. Sie ließ das Essen stehen und wartete darauf, dass Tris zu ihr kam, um mit ihr zu speisen.
Das Tageslicht fiel durch das hohe Fenster, weshalb die Schatten des Gitters sich zu diesem Zeitpunkt auf der Wand statt auf dem Boden abzeichneten. Unruhig ging Rialla eine Weile in ihrer Zelle auf und ab, bevor sie sich auf ihre Ausdauerübungen besann, die ihr sowohl als Tänzerin wie auch als Pferdeausbilderin zur zweiten Natur geworden waren.
Wenn sie hier zukünftig oft würde tanzen müssen, musste sie sich ohnehin in Form bringen, dachte sie. Ihr verletztes Bein war noch immer nicht so geschmeidig wie einst, und sie versuchte, es nicht überzustrapazieren.
Als sie ihre Gymnastik beendet hatte, rann ihr der Schweiß über den Rücken, aber sie war nicht übermäßig erschöpft. Aus dem Krug, der mit dem Essen gebracht worden war, goss sie sich etwas Wasser in die rechte Hand. Sie benetzte ihr Gesicht und trocknete es mit dem Saum ihrer Tunika.
Gelangweilt ließ sie sich neben dem Strohballen nieder und begann damit, Halme zusammenzuflechten, wie es ihre Mutter sie gelehrt hatte. Das Stroh hier war zwar nicht sonderlich geschmeidig und stark, und das Seil brach schon bei der leisesten Belastung, aber es vertrieb ihr die Zeit.
Sehnsüchtig blickte sie auf das Brot, als sie spürte, dass Tris in der Nähe war. Auch bemerkte sie eine Veränderung am Stein nahe der Decke, gleich neben dem Fenster. Es sah aus, als beulten sich die Blöcke und der Mörtel zwischen ihnen aus, bis die Form eines Körpers erkennbar wurde. Das Gebilde rutschte nach und nach herab, bis es den Boden erreichte. Langsam befreite sich Tris aus dem Stein, und seine typischen Körperumrisse und Gesichtszüge wurden erkennbar. Die Farbe des Granits wich aus seinem Teint und dem Stoff seiner Kleidung, bevor sich der Heiler den Staub von der Tunika und aus den Kniehosen klopfte.
»Gut, dass ich das nicht machen muss«, bemerkte Rialla.
»Was? Du meinst, den Stein zu durchdringen? So schlimm ist es gar nicht – Granit kratzt zwar ein wenig, und ich bevorzuge Marmor oder Obsidian, aber Granit ist nun mal verbreiteter, da muss man sich mit abfinden.«
Rialla lachte über die Ernsthaftigkeit, mit der er ihr dies erzählte. »Und?«, fragte sie. »Wie sind deine Erkundigungen gelaufen?«
»Gut«, meinte er und kratzte sich am Bart, als jucke es ihn darunter. »Habe nichts Außergewöhnliches festgestellt, nur dass es hier jede Menge Katzen zu geben scheint.«
Rialla nickte und nahm sich ein Stück Obst. »Wie in den meisten Burgen. Wegen der ganzen Ratten und so.« Genüsslich seufzend biss sie in einen Apfel. In Sianim war es einfach zu warm für den Anbau leckerer Apfelsorten.
»Nein, ich meine wirklich enorm viele Katzen. Jemand hier scheint ein ausgesprochenes Faible für sie zu haben.« Tris setzte sich auf den Boden, lehnte sich gegen die Wand. »Und wie war dein Tag im verschärften Arrest?«
Rialla sah ihn verzagt an. »Auch nicht schlimmer als das, was mich vielleicht morgen erwartet.«
»Was meinst du damit?« Tris beugte sich lauernd vor wie ein Raubtier, das Beute gewittert hatte.