»Müde?«, fragte Tris so leise, dass man ihn kaum hören konnte.
Sie konnte nicht mal den Kopf heben, wandte ihn einfach zu ihm um. »Ich bin zu alt für so was. Die anderen Mädchen sind fast noch Kleinkinder und in so viel besserer Verfassung als ich. Lass uns nach Sianim zurückkehren, wo ich’s mir in einem Schaukelstuhl gemütlich machen und Tischdecken sticken kann.«
Zwei Hände legten sich auf ihren Rücken und massierten ihre überstrapazierten Muskeln. Sie schnurrte wie ein Kätzchen und schob ihre Arme unter den Kopf, während sich die Verspannungen wie von Zauberhand lösten.
»Du machst Stickarbeiten?«, fragte Tris interessiert.
»Nein«, kam es zurück. »Und vielleicht, aber nur vielleicht, muss ich’s auch nicht mehr lernen, wenn du so weitermachst.«
Er lachte, führte seine Massage in ihrem Kreuz weiter und meinte fast im Plauderton: »Hab heute was Interessantes rausgefunden.« Er hörte auf, sie durchzukneten, und schlug ihr leicht mit den Handkanten über den Rücken.
»Aus dem, was ich aufgeschnappt habe«, fuhr er fort, »lässt sich schließen, dass Winterseine durchaus zur anderen Seite des Sumpfes gereist ist. Ein Schiff von ihm liegt in einem kleinen Hafen nahe der Südlichen See, mit dem er regelmäßig gen Osten segelt. In den letzten sechs Jahren hat er mindestens vier Monate im Jahr dort verbracht. Nur im letzten Jahr nicht, da hat sein Sohn die Reise allein gemacht. Was ist denn?«
»Hmpf«, meinte Rialla undeutlich, und dann: »Tri … hisssss … hör … auf!«
Er hörte auf, sie durchzuwalken und hockte sich neben sie.
Aus zusammengekniffenen Augen starrte sie ihn über die Schulter hinweg an und meinte beleidigt: »Schönen Dank auch. Vielleicht hätten wir dich allein hierher entsenden sollen. Alles, was ich heute rausgefunden habe, ist, dass ich in ziemlich mieser körperlicher Verfassung bin.«
»Warum so zickig?«, fragte er und lachte. »Ich fand nur, eine Festung dieser Größe könnte einen Schreinergesellen gut gebrauchen.« Plötzlich veränderte sich sein Aussehen, der Bart verschwand, und auch seine Kleidung wechselte – er trug nun ein schweres Wollwams, das gut geeignet war, Sägemehl abzuhalten. Tris machte keine Pause, während er weitersprach, doch mittendrin verschwand auch sein Akzent. »Hörte, der letzte Tischler ist im vergangenen Jahr gestorben, woraufhin sein Lehrling in die Stadt abgewandert ist. Und so hab ich den ganzen Tag die Küchenschränke repariert. Praktischerweise ist der Koch ziemlich geschwätzig. Besonders wenn er mit Leuten seines Ranges plaudern kann.«
Rialla schaute ihn mit einiger Ehrfurcht an. Wenn sie es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, hätte sie schwören können, dass sie gerade mit einem darranischen Handwerker aus der Mittelschicht sprach.
»Wie hast du ihnen erklärt, dass du ganz ohne Werkzeug hier aufgekreuzt bist?«, wollte sie wissen.
Er machte ein betrübtes Gesicht. »Ich wurde auf meiner Reise hierher leider von Banditen überfallen. Sie haben mir alles, was ich besaß, gestohlen. Ist es da nicht fast ein Glück, dass der alte Schreiner starb, ohne einen Erben zu hinterlassen, sodass sein ganzes Handwerkszeug noch hier war?«
Er gab seine Illusionsgestalt auf und fuhr fort: »Auch hab ich mir versehentlich mit dem Hammer auf den Daumen gehauen. So was passiert dem besten Handwerker ab und an. Daraufhin verfluchte ich im Namen eines ganz bestimmten Gottes alles und jeden, weshalb ich von einer ganzen Reihe aufgeschreckter Leute beruhigt und zum Schweigen gebracht werden musste, einschließlich des armen Jungen, der für den Grillspieß zuständig ist.«
Rialla wurde nachdenklich. »Am Anfang hielt ich’s für abwegig, als ich mich fragte, ob da vielleicht eine Verbindung bestehen könnte. Aber ich kann mir beim besten Willen keinen einzigen darranischen Haushalt vorstellen, in dem man aus der Fassung gerät, wenn ein Fremder beim Fluchen Altis’ Namen verwendet.« Sie sah zu Tris auf. »Jetzt schau nicht so selbstgefällig drein, das steht dir nicht.«
Er lachte und begann ihre Beine durchzukneten.
»Tris?«
»Hmm«, meinte er abwesend, während er sanft die Rückseite ihres lädierten Oberschenkels massierte.
»Hattest du nicht mal erwähnt, dass es hier ungewöhnlich viele Katzen zu geben scheint?«
»Hmm«, sagte er wieder. »Und das nicht nur in den unteren Etagen, sondern in der ganzen Festung. Warum fragst du?«
Sie schüttelte den Kopf, schloss wieder die Augen. »Ich weiß nicht … aber eine der anderen Sklavinnen hat heute an Katzen gedacht. In einem ziemlich seltsamen Zusammenhang …« Sie zuckte die Achseln. »War vermutlich nicht wichtig, aber komisch war es schon.«
Der nächste Tag verlief nicht anders als der vorherige. Als Rialla am Abend aus dem Tanzunterricht zurückkehrte, berichtete Tris ihr wieder, was er erfahren hatte, während er ihre Verspannungen löste. Er konnte das so viel besser als die Masseurin, die zum Einsatz kam, bevor die Tänzerinnen ins Bad geschickt wurden. Das lag zum Teil auch daran, dass Tris die Prellungen, die der Stock des Tanzmeister auf den Körpern der Sklavinnen hinterließ, gleich mitheilte, auch wenn er nie ein Wort darüber verlor.
Er hatte fast den ganzen Tag damit verbracht, sich den Klatsch der Bediensteten anzuhören. Dabei hatte er herausgefunden, dass Lord Winterseine viel Geld mit der Ausbildung von Sklaven verdiente und von seinen Reisen in den Osten sogar noch mehr mitgebracht hatte. Die exotischen dunkelhäutigen Frauen waren sehr begehrt und brachten in Darran das zwei- bis fünffache des Preises für einen normalen Sklaven ein.
Soweit war das für Rialla alles nichts Neues. Arbeitssklaven mochten eine gute Informationsquelle sein, doch Tänzerinnen in Ausbildung hatten nun einmal kaum Kontakt zur Welt da draußen. Der Tanzmeister mochte vielleicht mehr wissen, doch seine Gedanken und Gefühle drehten sich fast ausschließlich um seine Arbeit.
Als Tris seine Massage beendet hatte, fühlte sich Rialla wie eine knochenlose Masse aus schlaffen Muskeln. Noch immer lag sie mit dem Gesicht nach unten im Stroh. Tris lehnte sich gegen eine der Wände, schnappte sich einen Apfel und verzehrte ihn genüsslich. Bei dem Geräusch setzte sich Rialla auf und nahm sich aus dem Futterkorb ein Brötchen. In freundschaftlicher Eintracht und Stille aßen sie. Nach einer Weile warf Tris das abgenagte Kerngehäuse durch den Gitterrost in der Ecke ihrer Zelle.
Er bedachte Rialla mit einem seltsam ernsten Blick und sagte: »Ich habe nicht viel Zeit unter darranischen Adligen verbracht, noch weniger unter Sklaven. Du legst einen bestimmten Ausdruck an den Tag, wenn du versuchst, die Sklavin zu spielen, aber er unterscheidet sich von dem, den die anderen Sklaven zeigen.«
Das Brot in Riallas Mund war frisch und süß, aber sie musste es mühsam hinunterwürgen, bevor sie das Wort ergreifen konnte. Sie senkte den Kopf und wusste, dass die Sklavenmaske, die er erwähnt hatte, auf ihrem Gesicht praktisch festgefroren war. Endlich sagte sie: »Winterseine könnte dir erklären, dass es in Darran zwei Sorten von Sklaven gibt. Da sind zum einen die Lustsklavinnen, die Bettgefährtinnen. Die meisten Männer wünschen sich ihre langjährigen Gespielinnen devot und stets lächelnd an ihrer Seite, als bestünden deren Pflichten aus nichts als purem Vergnügen. Zwang ist ab und zu in Ordnung, kostet aber auf Dauer viel zu viel Energie. Lustsklavinnen werden bestraft, wenn sie nicht wenigstens vorgeben, Genuss bei der Pflichtausübung zu empfinden.«
Sie schluckte hart, fühlte Tris’ Augen auf sich gerichtet. »Tänzerinnen wie ich gehören für gewöhnlich keinem einzelnen Meister persönlich. Der Begriff, mit dem Sklavenausbilder sie im Allgemeinen bezeichnen, lautet ›Exoten‹. Tänzerinnen sind teuer, weil sie schon gewisse Talente mitbringen müssen, bevor man dann noch Zeit und Geld in ihre Ausbildung investiert. Sie befinden sich zumeist im Besitz von Tavernen, Privatetablissements oder Bordellen.«
Rialla blickte teilnahmslos auf ihr halb verzehrtes Brötchen und fuhr fort: »Sklavenausbilder denken, dass ein Sklave, der zum Lustsklaven gemacht wurde, keine Tatkraft, keine Individualität mehr besitzt. Eine Tänzerin hingegen braucht ein gewisses Maß an Unabhängigkeit und Selbstvertrauen.«