»Du sagst, die Sklavenhändler denken so. Wie denkst du darüber?«
Rialla zuckte mit den Schultern. »Eine Sklavin hat keine Tatkraft, keine Individualität mehr. Egal ob Tänzerin oder Gespielin. Eine Sklavin fühlt das, was man von ihr erwartet, und sie tut das, was man ihr sagt. Tänzerinnen folgen diesem Muster auf ihre Art genauso wie die Lustsklaven. Es ist kein besseres oder schlechteres Muster, es ist nur ein anderes.«
»Das tut mir leid«, sagte Tris leise.
Rialla schenkte ihm ein schiefes Lächeln und biss wieder in ihr Brötchen. »Das muss es nicht. Du kannst ja nichts dafür.«
Nach einigen Tagen des Tanztrainings stellte Rialla fest, dass sie des Abends nicht mehr ganz so erschöpft war wie am Anfang, aber Tris massierte sie auch weiterhin. Unter seinen heilenden Händen verschwand die Steifheit in ihrem verletzten Bein, sodass sie es bald schon genauso stark belasten konnte wie das gesunde. Abend für Abend hatten sie darüber gesprochen, was er tagsüber herausgefunden hatte, während er sie knetete und durchklopfte, bis sie sich wie ein zum Aufgehen bereiter Hefeteig gefühlt hatte.
Heute Abend jedoch war er sonderbar still.
»Was ist mit dir«, fragte sie schließlich und legte das Gesicht auf ihre Arme. Sie konnte seine Verstörung an den Rändern ihrer Wahrnehmung spüren, wollte aber nicht ohne Zustimmung in seinem Geist herumwühlen.
»Nichts«, entgegnete er. »Dieser Ort bedrückt mich. Der kalte Stein hält die Wärme und das Licht der Sonne ab.« Er machte eine Pause. »Und dann hab ich darüber nachgedacht, was du mir kürzlich gesagt hast.«
Sie wusste sofort, worauf er anspielte. »Halten deine Leute Sklaven?«
»Nein«, sagte er, »aber wir wussten davon. Einmal kam eine Sklavin in die Enklave und bat um Asyl. Ich wusste, dass einige religiöse Gemeinschaften den Sklaven Zuflucht gewährten. Nicht so meine. Die Sklavin wurde festgehalten, bis ihr Besitzer sie bei uns abholte.«
»War das deine Entscheidung?«, hakte Rialla nach, um herauszufinden, was ihn wirklich bedrückte. Sie nahm so etwas wie Schuld bei ihm wahr, das Gefühl, sein persönliches Gerechtigkeitsempfinden verraten zu haben.
»Nein, ich missbilligte diesen Beschluss – aus den falschen Gründen.« Stroh raschelte, als er sich erhob. »Ich war der Meinung, dass die Gemeinschaft diese Entscheidung nur aus Furcht getroffen hatte, nicht aufgrund reiflicher Überlegung. Ich hatte recht, doch ich war zu jung, um zu verstehen, dass es für die Handlungen und Entscheidungen der Enklave niemals einen anderen Grund gegeben hatte als Furcht. Die Ältesten hatten meinen Glauben an sie erschüttert. Und das hat mich mehr umgetrieben als das Schicksal des armen Mädchens, das man später in Ketten aus unserer Mitte abführte.«
Ja, das bekümmerte ihn, so viel konnte Rialla feststellen, aber es war nicht der Grund für seine Schweigsamkeit gewesen.
»Aber du machst es doch gerade wieder gut«, sagte sie. Sie setzte sich nun auf, um ihn direkt anzusehen. »Und selbst wenn die Sklaverei noch fünfhundert Jahre weiterbestehen sollte, so versuchst du doch, diese Zustände zu ändern.«
Er hatte sich abgewandt, stand mit dem Rücken zu ihr im verblassenden Lichtstrahl, der durch das kleine Fenster unter der Decke fiel. »Tue ich das?«, fragte er in seltsamem Ton. »Ja, ich glaube, das tue ich.«
Er drehte sich um, kam auf sie zu und bedeutete ihr, die ursprüngliche Position wieder einzunehmen. »Ich löse noch rasch diese Muskeln an deinem Rücken«, sagte er, »und berichte dir dabei, was ich heute rausgefunden hab. Kennst du eigentlich das Symbol, das in Verbindung zu Altis steht?«
Rialla rollte sich wieder auf den Bauch. Sie konnte seine Seelenqual spüren und die Reue, die ihn zutiefst aufwühlte, aber sie wusste nicht, wie sie ihm helfen konnte. Auch wusste sie nicht, ob ihm klar war, wie einfach er für sie zu lesen war – es geschah von ihrer Seite ja nicht willentlich, aber sie wollte auch nicht, dass er dachte, sie würde ihm zu nahe treten. Daher ging sie auf seinen Themenwechsel ein.
»Ich weiß nichts über Altis, außer dass er zu den Alten Göttern zählt«, sagte sie.
»Schäm dich«, erwiderte er in seiner besten Heiler-Stimme. »Altis war der Herr der Nacht. In seine Schatten flüchteten sich die Gejagten vor dem Jäger. Er zählte zu den wohlwollenden Göttern. Nicht nur sah er davon ab, aus Langeweile Menschen zu quälen, er hat sich auch mit den Göttern angelegt, die diesem ›Sport‹ frönten.«
»Was ist mit denen, die nichtmenschlich waren – so wie die Gestaltwandler, die Selkies und die … Silfs?«
»Sylvaner«, korrigierte Tris sie ungerührt und verstärkte seinen Druck auf ihre Rückenmuskeln. »Wir waren die Kinder der Götter und deshalb auch besser in der Lage, uns zu verteidigen. Wir konnten uns jederzeit auf unsere Göttereltern verlassen. Auf Nasren, den Herrn des Waldes und Vater aller Sylvaner. Auf Torrec, die Jägerin, welche die Gestaltwandler gebar. Oder auf Kirsa, die Göttin der Wellen und Mutter der Selkies. Sie verfügten zwar nur über eingeschränkte Kräfte, aber sie waren mächtig genug, um die anderen Götter davon abzuhalten, ihr Spiel mit uns zu treiben. Doch wo war ich stehengeblieben …«
»Altis«, sagte Rialla, aber es war mehr ein Stöhnen, weil Tris gerade die richtige Stelle bearbeitete.
»Ja, Altis. Sein Symbol stellt eine stilisierte Katze dar, aufrecht sitzend, den Körper im Profil, doch den Kopf gesenkt und den Betrachter direkt anblickend –«
»Mit einem fünfzackigen Stern direkt auf der Stirn, in dessen Zentrum sich ein riesiger Smaragd befindet«, unterbrach Rialla ihn.
»Also von dem Smaragd weiß ich nichts«, meinte Tris, »aber der fünfzackige Stern ist da. Wo hast du es gesehen?«
»Bei einer der Sklavinnen«, sagte sie. »Sie hat … an diese Katze gedacht.«
»Eine der Sklavinnen, mit denen du tanzt?«, fragte Tris.
»Ja.« Rialla musste lächeln und blickte zu Boden. »Das Bild war leicht einzufangen, weil es einherging mit … einiger Leidenschaft.«
»Diese Sklavin ist eine Anhängerin von Altis?«
Rialla lachte auf. »Nein, im Grunde weiß ich nicht, wie die Katze da hineingeriet. Die Sklavin erinnerte sich einer leidenschaftlichen Nacht, und ich kann dir versichern, das hatte nichts mit religiöser Hingabe zu tun.«
Tris schnaubte auf. »Dann hast du offenbar noch nie einen von diesen religiösen Eiferern getroffen …«
»Wolltest du auf was Bestimmtes hinaus, als du diese Katze erwähntest?«, hakte Rialla nach.
»Ja, aber es ist nun nicht mehr der Rede wert. Man bat mich heute zu überprüfen, ob einer der antiken Holzrahmen in den oberen Räumen noch zu retten sei. Wie auch immer, sobald man einmal die der Öffentlichkeit zugänglichen Bereiche in der Burg hinter sich gelassen hat, gibt es kein einziges Zimmer mehr ohne diese Katze.«
Rialla dachte darüber nach, dann meinte sie: »Aber warum? Um die Dienerschaft zu beeindrucken oder gar zu bekehren?«
»Und weshalb findet man dann ihr Abbild ausschließlich in den Privatetagen?«
»Das kann ich dir sagen. Als Sklavenhändler hat Winterseine des Öfteren mit Leuten aus dem Süden zu tun. Händler, die dann in den Besucherquartieren im Erdgeschoss nächtigen. Im Süden gibt es eine neue Religion, sie verbreitete sich gerade, als ich mit meinem Clan diese Gebiete bereiste. Man verehrt dort die ›Allmutter‹. Viel weiß ich nicht über diesen Glauben, außer dass seine Anhänger keine Geschäfte mit Leuten machen, die toten Göttern huldigen.«
Friedvolle Stille legte sich über den Raum, und Rialla entspannte sich unter Tris’ Behandlung, die er gerade ihren verkrampften Unterschenkeln zuteilwerden ließ. »Erzähl mir von deinem Volk, Tris.«
Sie spürte, wie er zögerte. »Es ist uns verboten, einem Außenstehenden … Ach, was soll’s, ich denke, ich bin dem Diktat der Ältesten nicht mehr länger unterworfen.« Er dachte einen Moment lang nach, dann begann er: