Der Lehrer übte derzeit mit ihnen einen der Standardtänze ein, den eine jede Sklavin zu beherrschen hatte. Er war recht weit verbreitet und konnte sogar vor darranischen Edelfrauen aufgeführt werden, ohne dass es ihnen die Schamesröte ins Gesicht trieb. Dennoch war es ein kunstvoller Tanz, der – im passenden Kostüm – auch ein Gutteil Erotik versprühte. Alles in allem eine nützliche Ergänzung des Repertoires einer Tänzerin. Die ganze Woche hatten die Sklavinnen damit zugebracht, und heute rief der Tanzmeister Sora auf, den Tanz von Anfang bis Ende zu präsentieren.
Sora erinnerte Rialla mehr als alle anderen Frauen hier an die Sklavin, die sie selbst einmal gewesen war. Wie sie besaß Sora den Vorteil, schlank und biegsam zu sein, wodurch sie sich ungleich eleganter bewegte als die anderen. Auch war sie eine hochtalentierte Tänzerin, die den Ehrgeiz besaß, immer besser zu werden. In ihrem Eifer versuchte sie Tag für Tag die schwierigsten Figuren zu tanzen, um ihren zukünftigen Meistern zu gefallen.
Rialla erschauderte, als die unerwünschten Erinnerungen sie heimsuchten. Sie versuchte zu vergessen, dass auch sie einmal so gewesen war: getrieben von dem einzigen Wunsch, eine gute Sklavin zu sein und die Erwartungen ihres Meisters zu erfüllen. Es machte sie fast körperlich krank, Sora dabei zu beobachten, wie sie wieder und wieder die perfekte Handhaltung probierte.
Sie war sorgsam darauf erpicht, keine Konkurrenz für Sora darzustellen; das arme Mädchen brauchte nicht noch weitere Herausforderungen in seinem Leben. Und so nahm sich Rialla die Anweisung des Tanzmeisters zu Herzen und schonte ihr Bein, wann immer es ging.
Rialla beherrschte den Tanz bereits, doch sie stellte sich zu den anderen und schaute zu, wie Sora ihn von Anfang bis Ende darbot. Die jüngere Sklavin war gut, aber nicht sonderlich schnell bei den Drehungen, und sie besaß auch nicht genug Lebenserfahrung, um bei ihrer Vorstellung die implizite Erotik nach außen zu tragen.
Nachdem Sora fertig war, nickte der Tanzmeister Rialla zu. Sie verstand, warum sie als Nächstes dran war. Obwohl sie den Tanz kannte, hatte sich Sora als die bessere Tänzerin präsentiert und würde den anderen als Vorbild dienen können.
Rialla begann mit ihrer Darbietung, achtete darauf, dass ihre Bewegungen ein wenig schlichter und die Drehungen etwas zögerlicher wirkten als bei Sora. Da sie sich bewusst zurückhielt, war sie schon weit im Tanz fortgeschritten, als sie sich zum ersten Mal im Rhythmus der Trommeln verlor. Und sie sah den Schlag nicht kommen, der sie von den Beinen riss.
»Wenn«, sagte Lord Winterseine, der mit kaltem Blick auf sie herabsah, »ich dich nicht in der Feste meines Neffen hätte tanzen sehen, könnte man meinen, du hättest in den sieben Jahren nach deiner Flucht jegliches Talent verloren. Dann hätte ich dir vielleicht abgekauft, dass du tatsächlich so steif und untrainiert bist, wie du tust. Steh auf!«
Teilnahmslos kam Rialla wieder auf die Füße. Sie wischte sich mit dem Handrücken das Blut von ihrer aufgeplatzten Lippe und ignorierte den Schweiß, der ihr über die Schläfen rann. Sie hatte das ungute Gefühl, dass ihr das, was nun folgte, nicht gefallen würde. Instinktiv verstärkte sie die Barriere, die sie für gewöhnlich errichtete, um Tris’ Geist auszusperren.
Lord Winterseine, der in der Reihe der Zuschauer gestanden hatte, schnappte sich eines der Mädchen und zerrte es mit sich, als er auf Rialla zuging.
»Du bist wertvoll«, gurrte er in Richtung Rialla, »und ich werde deine Haut nicht mit einer Peitsche verunstalten. Aber diese hier wird niemals eine gute Tänzerin werden.« Er hielt die Hand auf, und der Tanzmeister reichte Winterseine seinen Stock, mit dem er die Sklavinnen disziplinierte. Das Gesicht des Lehrers war so ausdruckslos wie das von Rialla, aber sie konnte seine Wut förmlich schmecken.
»Nur falls du denkst, dass es mir damit nicht ernst ist, werde ich mir diese kleine Demonstration erlauben.«
Er warf das Mädchen mit dem Gesicht nach unten auf die Matte und holte mit dem Stock aus. Die Sklavin schrie, als ihre Rippen unter dem Schlag brachen. Wohlweislich hatte Rialla einen Großteil ihrer Emotionen aus ihrem Geist verbannt, wie auch ihre Schmerzen.
Winterseine wandte sich zu dem Tanzmeister um. »Nimm sie und verbinde ihren Brustkorb, aber ich will, dass sie hierbleibt, bis diese hier«, er tätschelte Riallas Wange, »ihren Tanz zu meiner Zufriedenheit beendet hat. Ich hoffe, sie braucht nun keinen weiteren Ansporn mehr, aber ich bin diesbezüglich immer gern auf der sicheren Seite.«
Dass sie ihr verletztes Bein nicht mehr länger schonen konnte, stand außer Frage. Es war gut möglich, dass Winterseine das andere Mädchen zu Tode prügelte, egal, wie gut Rialla tanzte. Also gab sie ihr Bestes, nicht zuletzt, um nicht die Schuld für den Tod des Mädchens auf sich zu laden. Wenn sie eine tadellose Vorführung gab und Winterseine die Sklavin trotzdem tötete, würde er ganz allein dafür verantwortlich zu machen sein.
Und so gerieten ihre Drehungen noch eine Spur leichtfüßiger, was den Unterschied zwischen einer guten und einer ausgezeichneten Darbietung ausmachte. Doch sie wusste, der Meister verlangte nicht weniger als eine überragende Leistung. Sie betonte den erotischen Aspekt, legte mehr Feuer und weniger Anmut in ihre Bewegungen und schaffte es, das einfache Trainingskostüm in etwas weitaus Exotischeres zu verwandeln. Der Trommler war besser, als sie gedacht hatte; er verlieh seinem Spiel das zusätzliche Quäntchen Leidenschaft, das aus einer luftig-leichten Tanzdarbietung etwas machte, das man sonst nur im Schlafgemach oder in gewissen Etablissements zu sehen bekam.
Als Riallas Tanz endete, herrschte Stille im Übungssaal. Schwer atmend sah sie zu Winterseine und war erleichtert, als sie seinen zufriedenen Gesichtsausdruck wahrnahm.
»Ich will sie haben, Vater.« Terrans heisere Stimme durchbrach die Ruhe. Rialla war so auf Winterseine konzentriert gewesen, dass sie die Anwesenheit seines Sohns gar nicht bemerkt hatte.
»Nein«, erwiderte Winterseine. »Sie war wer weiß wie lange in Laeths Besitz. Du weißt genauso gut wie ich um die Loyalität, die zwischen einer Sklavin und ihrem Besitzer entstehen kann. Ich werde sie auf keinen Fall frei in der Burg herumlaufen lassen, solange ich mir ihrer uneingeschränkten Folgsamkeit nicht sicher sein kann.«
Terran wandte die Augen von Rialla ab und seinem Vater zu. »Ich will sie haben«, wiederholte er.
Rialla wagte einen unauffälligen Seitenblick zu Winterseine. Ein seltsamer Ausdruck trat in sein Gesicht, und es dauerte einige Sekunden, bevor sie begriff, dass es sich um nackte Angst handelte. Es war ein so ungewohnter Anblick, dass sie für einen Moment vergaß, worum es hier gerade ging.
Lord Winterseine fuhr zum Tanzmeister herum und sagte mit barscher Stimme: »Seht zu, dass sie nach dem Bad in die Gemächer meines Sohns geschafft wird.« Dann drehte er sich um und ging. Mit einem letzten Blick auf Rialla tat sein Sohn es ihm gleich.
Der Tanzmeister verbeugte sich leicht und bedeutete Rialla, bei den anderen zu warten. Dann sorgte er dafür, dass die verletzte Sklavin angemessen versorgt wurde.
Rialla stand da, wo er sie hatte haben wollen, und legte ihre zitternden Arme um den Oberkörper. Noch immer lief ihr der Schweiß in Strömen über das Gesicht, doch es kümmerte sie nicht. Im Moment hatte sie andere Sorgen. Sie hatte den Tanzmeister bloßgestellt und eine seiner Schülerinnen zu Schaden kommen lassen. Der Lehrer würde es ihr in den verbleibenden Stunden ganz sicher nicht einfach machen. Und Rialla versuchte nicht daran zu denken, was sie danach erwartete.
Als Rialla das Badehaus verließ, wurde sie schon von Tamas, Winterseines Adlatus, erwartet. Das dünne Seidengewand, das man ihr angelegt hatte, bedeckte nicht viel, und was es bedeckte, war durch den transparenten Stoff gut zu erkennen. In den sieben Jahren ihres Sklavendaseins hatte sie so ziemlich jedes Schamgefühl bei der Zurschaustellung von Blöße eingebüßt, doch unter Tamas’ Blicken wünschte sie sich nichts sehnlicher als eine Decke, unter der sie sich verstecken konnte.