Angesichts dieser Weißglut, die in ihm loderte, wusste sie nichts zu sagen. Und es überraschte sie, dass sie überhaupt in Erwägung zog, etwas zu sagen. Hätte Laeth jetzt dort schweigend in der Dunkelheit gestanden, hätte sie sich in die andere Ecke verzogen und beschämt zusammengekauert.
»Ich habe Terrans Tagebücher gefunden«, sagte sie schließlich und freute sich, wie ruhig ihre Stimme klang. »Ich dachte, er weiß vielleicht etwas über Karstens Ermordung und hat es aufgezeichnet. Ich bin nicht sicher, in welchem Zeitraum die Einträge in dem Buch entstanden sind, das ich habe mitgehen lassen. Ich konnte es auf die Schnelle nicht nachprüfen.«
»Du hast es in Terrans Zimmer gefunden?« Sie spürte, wie sich sein Zorn fokussierte, und begriff, dass er in ihren Erinnerungen nicht hatte sehen können, wer genau ihr Gewalt angetan hatte.
Es war zu viel, ich konnte nicht jedes Detail erfassen, sagte er ihr jetzt, denn er hatte offenbar ihren Gedanken gelesen.
»Ja«, sagte sie, »in Terrans Zimmer.«
»Und er hat es dich einfach so mitnehmen lassen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, er hat im anderen Zimmer geschlafen. Ich denke, niemand wird bemerken, dass es fehlt, bis Terran wieder etwas darin niederschreiben will. Ich hab dem Wachmann, der mich zurückgebracht hat, ähm, versichert, dass es völlig in Ordnung ist, wenn sich eine Sklavin eines von Terrans Büchern ausleiht.«
Tris knurrte.
»Selbst wenn ich mir das falsche unter den Nagel gerissen haben sollte, steht vielleicht etwas über Winterseine und seine Magie drin«, fügte sie hinzu.
Die Schatten in der Zelle wurden dunkler, je länger das Schweigen zwischen ihnen andauerte, bis der kleine Raum nur mehr durch das Licht der Sterne erhellt wurde, das durch das Fenster fiel.
Rialla räusperte sich unbehaglich, weil Tris’ Zorn einfach nicht abflauen wollte. »Was geschehen ist, gehört zum Sklavendasein dazu, und es ist nicht mal das Schlimmste, was einem widerfahren kann. Er war sauber und hat mir nicht über die Maßen wehgetan. Ich bezweifle, dass meine, ähm, Leistung ihn so sehr beeindruckt hat, dass er auf einer Wiederholung besteht.« Inzwischen wusste sie, dass sie nicht in Tränen ausbrechen würde, weil eine Sklavin das nun mal nicht tat. Und im Moment fühlte sie sich mehr denn je wie eine Sklavin und kein bisschen wie eine Pferdeausbilderin oder Agentin.
»Ist die Abschaffung der Sklaverei in Darran dir noch wichtig?«, fragte er mit abgewandtem Blick. »Die Sklavinnen hier scheinen mir nicht halb so entschlossen gegen ihr Schicksal anzukämpfen wie du.«
Rialla nickte müde.
»Auch nach diesem Vorfall?«
»Ja.«
»Dann werden wir morgen von hier verschwinden«, sagte Tris entschlossen.
Trotzig schüttelte Rialla den Kopf. »Aber das Tagebuch wird nicht ausreichen. Wir brauchen etwas –« Sie dachte kurz nach. »Wir brauchen Winterseines Zauberbuch. Alle Magier haben eins … Glaube ich zumindest. Konntest du herausfinden, wo sein Arbeitszimmer ist?«
Langsam nickte Tris. »Es befindet sich irgendwo in den oberen Etagen der Burg. Ich versuche morgen, dort einzudringen.«
»Und danach gehen wir«, sagte Rialla und spürte eine Welle der Erleichterung bei der Vorstellung, diesen Ort auf immer zu verlassen.
Sie redeten noch eine Weile, besprachen die diversen Fluchtmöglichkeiten. Es gab verschiedene denkbare Szenarien, abhängig davon, um welche Zeit sie flohen und wie viele Wachen sich ihnen in den Weg stellen würden. Schließlich verfielen sie wieder in Schweigen.
Es war seltsam, wie sehr Terrans Begierde sie noch immer beschäftigte. Der körperliche Akt war nie etwas gewesen, was sie genossen hatte, aber es gehörte zum Sklavendasein dazu. Wiewohl es ihr nie auch nur im Geringsten gefallen hatte, war kein einziges Mal der dabei empfundene Ekel so stark gewesen wie heute.
Der Zeitpunkt, in dem Tris sie für gewöhnlich allein ließ, verstrich, und er war noch immer da. Sie errichtete wieder einen Teil ihrer Barriere, doch es war schwieriger als beim letzten Mal. Sie empfand seine Anwesenheit als angenehm und tröstlich.
Rialla rollte sich auf dem Strohbett zusammen und schloss die Augen. Sie war erschöpft, konnte aber nicht einschlafen. Nach dem vierten oder fünften Versuch, eine bequeme Position zu finden, vernahm sie ein feines Raunen an den Rändern ihrer Wahrnehmung.
Liebes.
Sie zögerte, wollte jeden vertraulichen Kontakt wenn möglich vermeiden und antwortete deshalb laut: »Was ist denn?«
Komm doch mit mir, lud Tris sie ein, während sein Geist sachte an ihr zupfte.
Und wohin?, fragte sie, nun neugierig geworden.
Hierhin, erwiderte er und zog sie hinein in seine Träume.
Sie stand auf einem Felsvorsprung und schaute hinab auf den gigantischen Wasserfall, dessen Donnern den Untergrund zu ihren Füßen erbeben ließ. Der kühle Sprühnebel, der von den Kaskaden aufstieg, legte sich auf ihre Kleidung und bestrich den Stein, auf dem sie standen, mit einem dunklen Glanz. Sie hob den Kopf, erblickte Berge zu allen Seiten; auf den Gipfeln lag frisch gefallener Schnee, doch die Hänge waren über und über mit blaugrünen Nadelhölzern bewachsen.
Das Getöse, mit dem das Wasser über die weiter unten liegenden Felsen rauschte, war ohrenbetäubend. Sie versuchte, in die Tiefe zu schauen, doch der aufsteigende Nebel verschleierte ihre Sicht. Sie holte tief Luft und fühlte sie erneut – diese Störung, die sie hierhergebracht hatte.
Ein enger Pfad verlief am Rand des feucht glänzenden Felsens, und schon spazierte sie auf ihm talwärts, als befände sie sich auf einer breiten Überlandstraße. Als sie ihre Hand auf die raue Rinde einer Zeder legte, die sich am Wegessaum gen Himmel reckte, spürte sie die gemächliche Wanderung der Mineralien von den Wurzeln bis in den Stamm hinauf wie auch das Einsickern des nährenden Sonnenlichts von oben. Sie hielt einen Moment inne, konnte den friedlichen Triumph des knorrigen Baums mitfühlen. Und während sie so dastand, wuchs die Erkenntnis, und sie umfasste alles Werden und Gedeihen und Vergehen um sie herum in seiner ganzen Schönheit.
Die Erkenntnis blieb ihr, als sie ihren Abstieg fortsetzte. Dort unten im Nebel wartete etwas auf sie, etwas ganz Besonderes. Rialla konnte das Prickeln von fließender Magie in den Steinen wie in der Luft körperlich spüren.
Der Weg, dem sie folgte, endete plötzlich, da der Fels sich bis ins Wasser hinabschlängelte, das jetzt nur einen Steinwurf von ihr entfernt lag. Sie blinzelte, konnte aber nichts durch den Sprühnebel des herabstürzenden Katarakts erkennen. Das bewegte Wasser erschuf mächtige magische Strömungen; es gab genug Magie in dieser Schlucht, um ein Unwetter über der Wüste zu entfesseln. Mit einer Handbewegung machte sich Rialla einen Teil dieser Magie zunutze, um den Nebel zu vertreiben.
In der Mitte des aufgewühlten Wassers ragte ein großer schwarzer, buckliger Stein in die Höhe; das seltsame Wispern der gewonnenen inneren Einsicht sagte ihr, dass es sich um einen Feuerstein handelte, der tief im geschmolzenen Herzen der Erde geformt worden war. Und auf diesem Stein schlief etwas. Wäre da nicht das schwache Geräusch seines Ein- und Ausatmens gewesen, Rialla hätte es gar nicht bemerkt. Je länger sie die Kreatur anstarrte, umso mehr verdichtete sich der Eindruck, dass ein Großteil der unebenen Steinoberfläche in Wahrheit der Körper einer riesigen schwarzen Echse war.
Das Wesen war wunderschön. Rialla griff nach dem inneren Wissen, das ihr gesagt hatte, dass der Baum eine Zeder war und dem Fluss Magie innewohnte – aber sie konnte es nicht mehr finden.
Ich hatte noch nie zuvor einen gesehen, wandte sich Tris in seiner bescheidenen Art an sie. Ich ging im Wald spazieren, als ich diese … atmosphärische Störung wahrnahm.