Das ist aber kein richtiger Drache, oder?, meinte Rialla und starrte die Kreatur weiterhin unverwandt an. Sie wollte nicht weiterspekulieren aus Angst, vielleicht falsch zu liegen.
Was, glaubst du, ist es dann?, fragte Tris, und es schwang Belustigung in seiner Stimme mit. Ich dachte nicht, dass ich mich mit meiner Schnitzerei so weit vom Original entfernt hätte. Ein Bild wurde für Rialla geformt, das die aufwändig geschnitzte Spielfigur zeigte, die eine schlafende Echse darstellte.
In diesem Moment öffnete die Kreatur zögernd eines ihrer smaragdgrünen Augen und hob anmutig den Kopf, bis sie einen guten Blick auf Rialla und sie auf die Echse hatte. Wie sie sich bewegte, veränderte sich das Farbspektrum ihrer Schuppen, sodass sie die weiße und blaue Vielfalt des herabrauschenden Wasserfalls widerspiegelten, um dann tausend weitere Töne zurückzuwerfen.
»Ah«, sagte der Drache mit einer Stimme, die sowohl melodisch als auch vom Rasseln der Schuppen begleitet war. »Und ich dachte, alle Kinder des Waldes wären fort.«
Tris wartete, bis sie eingeschlafen war. Er schob ihre Kleider beiseite und nahm das Buch an sich, das sie mitgebracht hatte. Wenn man es bei ihr fand, würde Winterseines Strafe fürchterlich sein, dessen war er sich sicher.
Durch die Steinwand wieder zu verschwinden war schwieriger, als durch sie hierher zu gelangen, wenn die Schwerkraft seinen Abstieg unterstützte. Er kam außerhalb der Burg wieder zum Vorschein, wobei er auf Händen und Füßen im Dreck kniete.
Er erhob sich und klopfte sich so gut es ging den Schmutz aus den Sachen. Mithilfe seiner Magie rief er noch mehr Schatten herbei und dämpfte die Geräusche seiner Schritte. So getarnt, war es ein Leichtes, ungesehen zu seinem kleinen Unterschlupf zu gelangen, der irgendwo jenseits des Burghofs lag, wie so viele andere Rückzugsorte inmitten der freien Natur. Man hatte ihm eine Unterkunft im Trakt der Dienerschaft angeboten, aber er hatte ein etwas abgeschiedeneres Domizil vorgezogen – selbst wenn es nicht ganz so wetterfest war.
Vergewaltigung in jeder Form hatte ihn schon immer zur Raserei gebracht. Sie stellte einen Missbrauch der männlichen Beschützerrolle dar – selbst unter den Menschen –, aber sein Zorn ging noch tiefer. Rialla gehörte ihm, auch wenn sie es vielleicht noch nicht wusste.
Er hatte ein schlechtes Gewissen bei dem Gedanken. Rialla war sein, doch sie verstand nicht, was das Band zwischen ihnen wirklich bedeutete.
Trotz seiner nach außen getragenen Gleichmut, die seine schiere Größe, aber auch sein ganzes Auftreten ihm verlieh, war Tris schon immer impulsiv, ja, unbesonnen gewesen. Er reagierte spontan, ohne sich um die Konsequenzen zu scheren, doch nur sehr selten hatte er seine Handlungen im Nachhinein bereut. Selbst als die Enklave ihn verstoßen hatte, hatte er es nicht bedauert, dem Mädchen geholfen zu haben. Aber das hier … das war anders. Diesmal würde er nicht der Einzige sein, der unter seinem Ungestüm zu leiden hatte.
Er hatte es ganz impulsiv getan: das Band zwischen der Tänzerin mit dem feuerroten Haar und sich geknüpft. Er hätte, wenn es ihm nur darum gegangen wäre, auch einen besseren Weg finden können, um mit ihr in Kontakt zu bleiben, aber er wollte sie … eine Menschenfrau. Nie hatte er vorgehabt, sich je an einen Menschen zu binden, obwohl er ihnen gegenüber toleranter eingestellt war als die meisten aus seinem Volk. Selbst als ihm klar geworden war, dass sie diejenige sein musste, welche die alte Trenna in ihrer Vision beschrieben hatte, hatte er sich auf keinen Fall mit ihr verbinden wollen. Tris war niemand, der an so etwas wie das Schicksal glaubte. Aber er hatte erkannt, dass sie sein Schicksal war. Und das hätte er auch ohne Trennas Prophezeiung begriffen.
Sie hatte ihn vom ersten Moment an fasziniert, nicht nur aufgrund ihrer Erscheinung, so spektakulär sie auch war. Er schätzte ihren Humor, ihren widerstrebenden Mut und dass sie das Drachenspiel beherrschte und dabei gewann, sei es in ehrlicher Weise oder indem sie ihn austrickste. Nicht lange nach ihrem Kennenlernen war ihm klar geworden, dass der einzige Weg, ihr Vertrauen zu gewinnen, darin bestand, dass er das Errichten jeglicher Barrieren zwischen ihnen ablehnte.
Es gab nicht mehr viele in seinem Volk, die noch auf jene Weise mit jemandem verbunden waren. Die meisten gaben sich mit der einfachen Hochzeitszeremonie zufrieden, wie sie unter den Menschen üblich war. Doch zu oft konnte der perfekte Partner nicht gefunden werden, und die Verbindung wurde mit der Zeit schwächer, nicht stärker. Doch er hatte gewusst, dass es mit Rialla anders sein würde, hatte es gewusst, noch bevor er das Band zwischen ihnen geknüpft hatte.
Tatsächlich war die Verbindung zwischen ihnen inzwischen so stark, dass er sie nicht mehr zu lösen vermochte. Diese Linie war überschritten worden, als sie seine Magie ohne Absicht dazu benutzt hatte, auf dem Folterrad das herannahende Wasser zu erspüren. Seufzend schloss er die Augen.
Beim Geräusch des Schlüssels im Schloss ihrer Zellentür erwachte Rialla. Es war der nächste Morgen, und Tris war fort. Natürlich. Dennoch wäre es nett gewesen, wenn er sie in seine Pläne eingeweiht hätte, bevor er verschwand. Ihr Blick fiel auf die Kleider von gestern, aber auch das Tagebuch, das sie gestohlen hatte, war weg. Sie hoffte, dass Tris es genommen hatte. Mit einem leichten Achselzucken folgte sie der Wache in den Übungssaal.
Die Plattform, die als Tanzboden diente, konnte auch als Kampfplatz genutzt werden. Schon als Rialla sich warm machte, um die Gliedersteife der Nacht abzuschütteln, konnte sie die Feindseligkeit der anderen Sklavinnen spüren.
Natürlich machte man sie für die Bestrafung der anderen Sklavin verantwortlich. Das verletzte Mädchen war eine Kameradin gewesen; Rialla war die Außenseiterin. Man konnte auch nicht von ihnen verlangen, dass sie Winterseine die Schuld für den Vorfall gaben. Sie waren zu gut gedrillt, um die Entscheidungen ihres Herrn in Frage zu stellen. Rialla hatte sich vor ihren Pflichten gedrückt, etwas, das eine gute Sklavin einfach nicht tat, und eine von ihnen hatte den Preis dafür gezahlt.
Die offene Ablehnung der anderen machte Rialla nichts aus, aber es rief ihr unerfreulicherweise in Erinnerung, dass sie sich einst genauso verhalten hatte.
Als sie die ersten Schritte des Tanzes vollführten, wartete das Mädchen neben Rialla, bis der Lehrer wegschaute, und versuchte ihr dann unauffällig ein Bein zu stellen. Rialla machte einen Ausfallschritt und vermied den Sturz, da sie die Absicht des Mädchens erahnt hatte. Danach nutzte sie ganz bewusst ihre Empathie, um ähnlichen »Missgeschicken« aus dem Wege zu gehen, und ignorierte ansonsten alles andere um sich herum.
Der Tanzmeister war nicht dumm; er bemerkte, was sich hier abspielte und separierte Rialla von den anderen; zu viel Zank würde nur das Training stören. Rialla lächelte böse und konzentrierte sich wieder auf ihren Tanz.
In der Pause wurde sie von Tamas erwartet. Er packte sie grob am Arm, als sie sich gerade mit einem Baumwolllappen die Stirn trockenrieb. Rialla versteifte sich erschrocken; nicht wegen Tamas, sondern wegen des wütenden Knurrens, das sie von Tris empfing. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie nah er war. Sie wandte den Kopf, empfing ein Bild von ihm – er saß in der Nähe der Burg in des Schatten und ölte ein kleines Holzstück ein.
»He!« Tamas schüttelte sie leicht. »Wie es scheint, hast du die Aufmerksamkeit des jungen Herrn erregt. Er will, dass du mitkommst.«
Einen Moment lang starrte sie ihn entsetzt an, bevor sie den Blick senkte. Dann ließ sie sich von ihm über den Innenhof und in die dunkle Burg hinein mitziehen.
Widerspruchslos folgte sie Tamas durch die verschlungenen Gänge und die zwei Etagen hinauf in die Privatgemächer der Burgherren. Als sie eine Stelle erreichten, die ihr für ihren Zweck geeignet erschien, schlug Rialla zu.
Ihr Ellbogen traf Tamas genau an der Brust. Während er taumelte und nach Luft schnappte, knallte sie seinen Hinterkopf gegen die Wand.