»Tris?«, fragte Rialla.
»Hmm?«
»Wohin gehen wir?«
Etwas bei einem mit Rohrkolben bestandenen Streifen am Bachlauf, dem sie folgten, erregte seine Aufmerksamkeit. Er hielt an und strich behutsam die Erde vom Wurzelwerk einer schlanken Pflanze mit kleinen weißen Blüten.
»Das ist die ›Weiße Mönchskutte‹«, erklärte er. Er grub die Pflanze behutsam aus und schüttelte die Erdbrocken aus den Wurzeln. »Gibt ein starkes Schlafmittel ab. Nur wenige Blätter können einen Mann für Stunden in Tiefschlaf versetzen.«
Er zog sich den Ranzen vor den Bauch und legte die Pflanze vorsichtig auf die Bücher.
»Sianim«, sagte er, nachdem sie ihren Weg wieder fortgesetzt hatten.
Rialla hatte keine Ahnung, worauf sich seine Bemerkung bezog. Als sie begriff, dass er ihre Frage beantwortet hatte, sagte sie: »Woher weißt du, wo Sianim liegt? Warst du schon mal dort?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich weiß, wo dieser Wald von einer breiten Straße durchschnitten wird. Und wenn man dem Koch aus der Burg glauben darf, führt die einzige Hauptstraße hier gen Osten nach Sianim und gen Süden ins Territorium der Allianz. Besagte Straße befindet sich zweieinhalb Tagesreisen von hier. Aber ich dachte, wir könnten in den Wäldern erst unsere Verfolger abschütteln, bevor wir darauf zuhalten.« Er schenkte ihr ein breites Grinsen. »Wir Sylvaner haben eine Menge Vorteile gegenüber euch Menschen.«
Rialla erwiderte sein Lächeln. »Besser ein Mensch sein, als sich im Wald mit der örtlichen Flora verbrüdern zu müssen.«
In gespielter Empörung schüttelte er den Kopf und sagte traurig: »Immer wird das herabgesetzt, von dem sie nichts wissen. Sich in der Natur aufzuhalten kann eine interessante Erfahrung sein, mit der richtigen Person, versteht sich.« Er sah sie vielsagend an, ruinierte aber den Effekt, da ihm in diesem Moment eine weitere Pflanze ins Auge fiel. »Coralis!«, rief er begeistert aus. »Ich dachte nicht, dass sie so weit im Norden noch zu finden ist.«
Rialla war froh deswegen, denn sie hatte gerade begonnen, sich ob seiner subtilen Anbändelei ein wenig unwohl zu fühlen. Sie grinste, als er sich hinabbeugte, um die Rinde eines kleinen Baums zu inspizieren, der bemerkenswert blutrote Blüten hervorgebracht hatte. Andererseits war es nicht gerade schmeichelhaft, für eine Pflanze links liegen gelassen zu werden …
Entschuldige, sagte er und sah zu ihr auf.
Überrascht starrte sie ihn an. »Kannst du die ganze Zeit über meine Gedanken lesen?«, fragte sie. Plötzlich konnte sie Laeth ein wenig verstehen; es war nicht schön, in dem ständigen Gefühl leben zu müssen, dass die eigenen Gedanken nicht länger privat waren.
Er straffte sich und schüttelte den Kopf. »Nein, nur ab und zu. Und dann für gewöhnlich auch nur die oberflächlichsten Gedanken.«
Sie lächelte ihn an, als sie sich wieder auf den Weg machten. »Es ist sehr ungewohnt, dass es jemanden gibt, der mich so lesen kann, wie ich es normalerweise bei allen anderen tue.«
Er zwinkerte ihr zu, wollte etwas sagen, wurde dann aber durch die Sichtung einer anderen Pflanze davon abgehalten.
Sie reisten schnell, trotz der gelegentlichen Pausen, in denen Tris die ihn umgebende Flora inspizierte und Rialla ein wenig verschnaufen konnte. Im Süden und Westen ragten Berge auf, doch ihre Route verlief durch das hügelige Vorgebirge. Nachdem sie einige Meilen ohne erkennbare Verfolgung zurückgelegt hatten, konnte sich Rialla endlich etwas entspannen und darüber freuen, Winterseines Burg hinter sich gelassen zu haben. Tris hatte sogar einige Pflanzen gesammelt, an denen sie auf ihrem Weg knabberten.
Die Abenddämmerung brach herein, und sie schlugen ihr Lager auf einer kleinen Lichtung auf. Rialla hatte ein Plätzchen mit verhältnismäßig wenigen Steinen gefunden und es sich dort bequem gemacht. Erschöpft legte sie ihren Kopf auf die Arme, während Tris neben ihr dasselbe tat.
Die Sommerluft war noch warm, doch Riallas Sklavengewand vermochte sie nur schlecht vor dem drohenden Temperatursturz in der Nacht zu schützen. Aber nach allem, was sie in den letzten Tagen durchgemacht hatte, trug ihre Müdigkeit den Sieg über derlei Unannehmlichkeiten davon. Und so fröstelte sie klaglos ein- oder zweimal, bevor sie einschlief.
Tris bemerkte, wie sie sich zitternd herumwälzte, doch als er sah, wie sie die Beine anzog, um die Wärme besser im Körper zu halten, reichte es ihm. Er rutschte auf sie zu, bis er direkt neben ihr lag, und zog sie dann näher zu sich heran.
Als er dabei ihre Schultern berührte, spürte er … Terrans feingliedrige Hände auf nackter Haut … einen Widerwillen, der fast an Grauen grenzte … Schmach … Hass … und einen Hauch von Todesangst …
Besitzergreifende Wut überwältigte ihn, selbst als er in diesem Moment begriff, dass das Band zwischen ihnen mittlerweile über den Gedankendialog hinausging – zumindest auf seiner Seite. Zum ersten Mal im Leben nahm er Riallas Emotionen wahr, als würde ihre Gabe langsam in ihn hineinsickern. Sorgfältig schwächte er die Ränder seines Zorns ab. Ja, er würde Rialla nach Sianim bringen, und dann würde er diesem Terran vielleicht zeigen, was die Raserei eines Heilers zu bewirken vermochte.
Leise wimmerte Rialla im Schlaf. Tris stieß langsam die Luft aus. Als er sich wieder unter Kontrolle hatte, ließ er seinen Geist erneut in Riallas Träume hinabsinken.
Zärtlich fing er sie ein mit seinen Gedanken, lockte sie fort aus Terrans Schlafzimmer und hinein in die ungleich süßere Erinnerung an einen See im Norden, der silbern und golden glitzerte im Schein der untergehenden Sonne.
Wie gewöhnlich war sie allein, als sie noch vor der Morgendämmerung erwachte. Sie stand auf und schüttelte ihre Kleidung aus, doch die meisten Knitterfalten und Dreckklumpen widerstanden ihren Bemühungen. Sie holte tief Luft und wunderte sich nicht wirklich, als sie den typischen Geruch von Schnee in die Nase bekam. Tris’ Rückkehr ins Lager unterbrach ihre Gedanken, und sie wünschte ihm einen guten Morgen.
Im ersten Licht des jungen Tages brachen sie auf. Nach einer Weile bekam Rialla Hunger, und als sie einen Brombeerstrauch erblickte, hielt sie an und bediente sich. Tris fand einige Knollenwurzeln, die er an seinem Hosenbein sauber rieb. Die schmeckten zwar nach so gut wie nichts, füllten den Magen aber besser als die Beeren.
»Über dem Feuer geröstet sind sie leckerer«, meinte er kauend.
»Wenn du es sagst«, erwiderte Rialla skeptisch, obwohl der Hunger sie herzhaft zubeißen ließ. »Jede Weiterbehandlung, und sei es mit den Ascheresten eines Lagerfeuers, kann eigentlich nur eine Geschmacksverbesserung darstellen.«
Tris wollte schon etwas erwidern, als ein seltsamer Schrei die Luft zerriss. Danach trat eine gespenstische Stille ein, nicht mal ein Vogelruf war in den Wäldern mehr zu hören.
»Weißt du, was das war?«, fragte Tris ruhig.
»Ich bin nicht sicher, aber sind wir nicht in der Nähe der Burg des ae’Magi?«
Tris stutzte, als zöge er eine innere Landkarte zu Rate. »Einen halben Tagesmarsch von hier liegt so etwas wie eine große Burg, Richtung Süden.«
Rialla nickte. »Das müsste sie sein. Und das, was wir gehört haben, war vermutlich ein Uriah. Ich hab zwar noch nie selbst einen zu Gesicht bekommen, aber es heißt, bei der Burg des Erzmagiers sollen noch welche hausen. Als der vorherige ae’Magi starb, gab es dort unzählige Uriah, die dann in den umgebenden Ländereien untergetaucht sind. Söldner aus Sianim hatten sie aus der Burg vertrieben und die meisten von ihnen vernichtet, aber alle konnten sie in den Wäldern nicht aufspüren. Ich hörte, der amtierende ae’Magi kümmert sich nicht mehr groß um sie. Wie man sagt, ist ihnen mit Magie schwer beizukommen, man soll sie nur mit Feuer oder einem Schwert töten können. Und ich hab nicht mal mein Messer …«
Tris nahm Riallas Arm und ging zügig weiter. »Bösartige Dinger, wenn man den Geschichten glauben will. Hab mal einen aus der Entfernung gesehen und konnte von Glück sagen, dass er mich nicht entdeckt hatte. Der Schrei von eben klang nicht sehr nah, aber ich denke, es ist eine gute Idee, wenn wir machen, dass wir weiterkommen.«