»Nicht die Seiten berühren!«, warnte Tris und legte das Grünzeug beiseite. »Es gibt eine Menge ungesunder Überraschungen, die ein Menschenmagier in seinem Zauberbuch für Unbefugte bereithalten kann.«
Er nahm ihr das Grimoire aus der Hand und klopfte mit dem Buchrücken gegen sein Bein, doch die Seiten weigerten sich standhaft, wieder an ihren Platz zurückzurutschen. Er neigte es vorsichtig, bis ein dünner Lichtstrahl von oben auf die cremefarbene Oberfläche der störrischen Seiten fiel.
»Hmm«, machte Tris, bevor er seine Hand ausstreckte und kurz über den Folianten hinwegstrich. »Diese Seiten waren nie Teil des Grimoires – dafür sind sie zu alt.«
Rialla betrachtete die sorgfältig gefalteten Blätter genauer. »Aber sie sehen gar nicht alt aus.«
»Magie«, erklärte Tris. »Diese Seiten bergen mehr Magie in sich, als ein Zauberer allein anhäufen könnte, menschlich oder nicht. Man bräuchte zwanzig oder mehr der stärksten aus meinem Volk, um so viel Magie zu beschwören. Und ich schätze, mindestens ebenso viele Menschenmagier.«
»Aber es sind doch nur leere Pergamentseiten«, sagte Rialla überrascht.
Tris hob die Augenbrauen und schaute wieder auf die gelblichen Blätter. »Kannst du denn nicht die Symbole darauf erkennen?«
Sie schüttelte den Kopf, lehnte sich noch ein wenig weiter vor, um besser sehen zu können, wobei sie sich mit einer Hand an Tris’ Schulter abstützte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sobald sie ihn berührte, erschienen auf der ihr zugewandten leeren Seite Markierungen, die seltsam verschwommen wirkten.
Rialla blinzelte, stieß einen leisen Fluch aus und nahm ihre Hand von Tris’ Arm. Sobald der Kontakt zu ihm unterbrochen war, waren die Seiten wieder leer. »Kannst du sagen, wozu diese Zaubersprüche gut sind?« Ihre Stimme klang unsicher.
Tris schüttelte den Kopf. »Ich bin kein Anwender von Menschenmagie und würde niemals Sprüche einsetzen, die man auf eine solche Weise niederschreiben könnte.«
Rialla musste ob seiner unverhohlenen Verachtung lächeln. »Und was sollen wir jetzt damit anstellen?«
»Wir nehmen alles mit nach Sianim. Sollen sich doch die Menschenmagier darüber den Kopf zerbrechen.« Tris verstaute das Buch in der dunkelsten Ecke seines Ranzens, wo die halb herausgerutschten Seiten nicht weiter störten.
Als Tris sich herumdrehte, um eine bequemere Position zu finden, berührte er zufällig Terrans Tagebuch mit der Hand. Er nahm es an sich.
Macht es dir was aus, wenn ich das mal durchblättere?, fragte er.
Rialla zuckte die Achseln. Ich tue mich selbst bei Festbeleuchtung schwer mit geschriebenem Darranisch. Wenn du es hier entziffern willst, nur zu. Ich denke, ich werde mich jetzt ein wenig ausruhen …
Sie spürte, wie er seine Aufmerksamkeit auf sie lenkte. Dein Bein macht dir Probleme, stellte er fest. Soll ich mal schauen, ob ich was für dich tun kann?
Sie zögerte, schüttelte dann jedoch den Kopf. Sie war noch nicht dazu bereit, sich unter den Händen eines Mannes zu entspannen.
Also gut, meinte Tris. Das Angebot steht, falls du es dir doch noch anders überlegen solltest.
Erst nachdem sich Rialla auf dem Laubbett zusammengerollt und die Augen geschlossen hatte, stellte sie fest, dass der Wechsel vom gesprochenen Wort zum Gedankendialog ganz unbewusst erfolgt war. Sie fragte sich, ab welchem Moment es zu einer solchen Leichtigkeit geworden war, sich auf diese Weise mit Tris zu verständigen. Sie hörte, wie Tris in dem dünnen Diarium leise die Seiten umblätterte, und das Geräusch verschmolz mit dem Rascheln der Blätter, auf denen sie lag. Ohne einen weiteren Gedanken glitt sie hinüber in einen erholsamen Schlaf.
Sie wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte, als sie wieder erwachte, doch in ihrem Unterschlupf war es immer noch düster.
»Rialla?«
»Hmmm?«, antwortete sie schläfrig.
»Ich denke, das dürfte dich interessieren.«
»So?« Rialla versuchte klar zu werden und setzte sich auf, während sie sich Blattstücke und Schmutz von der Kleidung fegte. »Um was geht’s denn?«
Tris zeigte mit dem Finger auf die Seite im Tagebuch, die er gerade aufgeschlagen hatte. Dann legte er seine Lektüre beiseite, zog die Knie an und sagte: »Lass mich dir eine Geschichte erzählen:
Es war einmal ein Junge, gerade an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Sein Vater war sowohl ein Magier als auch ein Athlet. Als klar wurde, dass der Junge nichts von beidem werden würde, fühlte er sich als Versager. Eine Einschätzung, die sein Vater teilte.
Wie vielen Kindern seines Alters fiel es dem Jungen schwer, sich vorzustellen, was für ein Mann einst aus ihm werden konnte. Er war ungeschickt und gehemmt und neigte dazu zu stottern, wenn er nervös wurde.
Neben seiner Profession als Magier war der Vater auch Sklavenhändler. Ab und an überquerte er den Großen Sumpf und besuchte die geheimnisvollen Reiche im Osten, weil Sklaven aus diesem Teil der Welt besonders wertvoll waren. Das nicht zuletzt deshalb, weil es aufgrund der großen Entfernung nicht so leicht war, ihrer habhaft zu werden. Das einzige Talent des Jungen bestand in einer gewissen Sprachbegabung, sodass sein Vater ihn auf seine Reisen mitnahm.
Eines Tages durchquerten sie ein kleines, vom Krieg zerrissenes Land im Osten. Sie übernachteten in einer Unterkunft, die vor langer, langer Zeit ein Schrein zu Ehren des Gottes Altis gewesen war. Obwohl vieles vom ursprünglichen Gebäude umgebaut oder den Jahren zum Opfer gefallen war, betrachtete sein Besitzer, ein reicher Händler, den ursprünglichen Zweck des Gebäudes mit einigem Stolz.
An diesem Abend machte sich der Junge beim Abendessen einmal mehr zum Narren. Eine der Töchter ihres Gastgebers sprach ihn an, und er wurde so fahrig, dass er sein Weinglas umstieß, dessen Inhalt sich über seinen Schoß ergoss. Das Lachen seines Vaters und ihres Gastgebers im Ohr, stürmte der Junge aus dem Speisesaal und begab sich auf das Zimmer, das ihm und seinem Vater zugewiesen worden war.
Der Raum selbst war ungewöhnlich. Anders als die übrigen Zimmer, die der Junge in diesem Haus gesehen hatte, bestanden hier Boden und Wände aus Stein und nicht aus Holz. Die Pritsche, die man ihm zugeteilt hatte, drängte sich in eine Ecke, sein Vater schlief in dem pompösen, mit seidenen Laken bezogenen Bett. Der lange, niedrige Marmortisch, der fest mit dem Boden verbunden war, ließ die übrigen Möbel im Zimmer winzig erscheinen.
Der Junge, der nichts als Ruhe und Zuflucht suchte, betrat das Zimmer mit einer Öllampe, die er aus dem Flur vor dem Speisesaal mitgenommen hatte. Ungeschickt wie eh und je und noch immer verwirrt durch die erlittene Schmach, stolperte er über einen kleinen Läufer und stürzte. Dabei streifte seine Stirn eine Ecke des schweren Tisches. Obwohl es kein harter Aufprall war, blutete er heftig, wie es bei Platzwunden am Kopf ja häufig der Fall ist.
Froh, dem Gespött der anderen entkommen zu sein, rappelte sich der Junge wieder auf. Irgendwie hatte er beim Sturz die Lampe fallen lassen, deren Öl dabei durch den halben Raum gespritzt war. Er stellte sie auf dem weißen Marmortisch ab und schenkte Blut und Öl, das über die Oberfläche verteilt war, keine Beachtung.
Er wusste, er würde jemanden bitten müssen, seine Kopfwunde zu versorgen, aber er wollte sich auch nicht der Untersuchung durch einen völlig Fremden aussetzen. Und schon gar nicht wollte er sich von seinem Vater verbinden lassen, der ihn sicherlich wegen seiner Ungeschicklichkeit verhöhnt hätte.
Ihm wurde schwindlig, und da er vor dem Tisch kniete, legte er erst die Arme und dann den Kopf auf die kühle Oberfläche. Nach und nach glitt er hinüber in einen leichten Dämmerzustand.«
Tris machte eine Pause, dann fuhr er fort: »Was als Nächstes geschah, mag vom jeweiligen Blickwinkel desjenigen abhängen, der die Ereignisse zu bewerten hat. Ich berichte die nachfolgenden Geschehnisse aus der Sicht des Jungen, und du musst dir angesichts deiner eigenen Erfahrungen und Beobachtungen selbst ein Bild machen, Rialla.